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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 59.1943-1944

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Scheffler, Karl: Edvard Munch
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https://doi.org/10.11588/diglit.16492#0164

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Edvard Münch. Haus unter Bäumen

Formats aus der Umgebung Oslos entstanden, aus
denen pantheistisches Empfinden spricht.
Münch gehörte nicht zu den Malern, die in jedes Werk
ihre volle Kraft legen: seine Fälligkeiten können voll
gewürdigt werden nur angesichts einer größeren An-
zahl von Werken. Denn die Nabelschnur zwischen
Subjekt und Objekt ist nicht immer durchschnitten.
Einzeln gesehen, haben viele Bilder etwas Vorläu-
figes. Münch war ein Gestalter der ersten Anlagen,
nicht des mühsamen Vollendens, er war Improvisator,
ein Temperament des schnellen Wurfs, wenn auch
packender Empfindungen, und ein Meister jener de-
korativen Form, deren sich der Symbolismus gern
bedient. Endgültiges, lange Erwogenes wurde wie im
Fluge realisiert. Dadurch geriet das Einzelne auf der
Bildtafel zuweilen ins Wackeln, die Bildorganisation
aber bleibt im ganzen dennoch straff.
Von der Bilderwelt des Norwegers geht etwas wie
Ossianstimmung aus. Dargestellt ist. wie Häuser im
indirekten Licht der Mittsommernacht den Betrachter
drohend anglotzen, wie Menschen irr und ratlos in
Totenzimmern umherstehn, sich schämend vor der
Überlegenheit des Todes, wie Mann und Weib in
brünstiger Umschlingung Opfer des Gattungstriebes
sind, oder wie Knaben und Mädchen mit krankem
Sehnen in die Welt blicken. Gruppen heller Mädchen-

gestalten, flankiert von einer schwarz drohenden Ge-
stalt, neigen sich gegeneinander, draußen auf der See
aber treibt ein buntes Boot in lauter farbiger Herr-
lichkeit. Es schluchzt die Nähe und es jubelt die Ferne.
Alle Männer haben etwas von Adam, alle Frauen
etwas von Eva. Im Beich dieses Bomantikers der Le-
bensangst ist — nach dem Wort Schopenhauers —
wirklich ., alles schrecklich zu sein, aber herrlich zu
sehen.'" Aus dem Schmerz wächst Schönheit, Ergrün-
dung wird schmückend, Hieroglyphen des Leids fügen
sich zu einem Teppich des Lebens, und so entstehen
Bildarabesken voller Magie. Ein Bornantiker, der nicht
lügen kann! Seine Kunst ist das Gewächs eines Landes
mit langen, kalten, sonnenlosen Wintern und mit
kurzen, berauschenden Sommern ohne Nacht; in ihr
sind arktische Gegensätze eines geworden: die Qual
der Dunkelheit und der Jubel des Lichts.
Die Zeitungen meldeten, Münch hätte seinen Nachlaß
dem norwegischen Staat vererbt. Zusammen mit dem,
was norwegische Museen und Sammler besitzen,
könnte dieses ein Munch-Museum ergeben, worauf
das Land stolz sein dürfte. Hoffentlich wird dort dann
ein Lieblingswunsch [Münchs erfüllt: die Wiederzu-
sammenfügung des zerrissenen „Lebensfrieses". Aber
auch wenn es nicht gelingt: das ganze Lebenswerk ist
ein einziger „Fries des Lebens'".

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