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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 59.1943-1944

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Christoffel, Ulrich: Vom Gesichtsausdruck in der Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.16492#0179

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Willy Kriegel. Wald in der Dämmerung

Große Deutsche Kunstausstellung München 1944

gen und trotzdem wenig empfindlich für die tiefern
seelischen Erschütterungen. Sie suchen das Erlebnis,
weil das Lehen nicht über sie wegrauscht und -strömt.
Aus Maiigel, nicht aus Uberfluß an geistigem Wach-
sein verlangen sie in den Künsten nach den stärksten
Reizmitteln der Affekte. Die Alärtyrerszenen werden
unter Betonung des Häßlichen. Brutalen und Grau-
samen dargestellt und durch die unwahrscheinlichsten
farbigen Beleuchtungen im Ausdruck gesteigert. Die
Kunst des reinen malerischen Ausdruckes bedarf jedoch
solcher Mittel nicht.

Den Werken der Manier, in denen die Ausdruckswir-
kungen mimisch durch einzelne Köpfe oder Gebärden
dargestellt werden, eignet meist eine ungewöhnliche
Virtuosität der artistischen Mittel und selbst bei schwä-
chern Talenten ein hoher Durchschnitt der handwerk-
lichen Geübtheit. Durch geschickte Anwendung der
zeichnerischen Formeln werden die gewünschten Aus-
druckseffekte oft beinahe mechanisch erreicht. Bei Ver-
zerrungen und Verkrampfungen des Ausdruckes dür-
fen also verstandesmäßige könnerische Mittel zunächst
eher als echte Leidenschaften des Künstlers vorausge-
setzt werden. Ein manierierter mimischer Ausdruck
wird im ersten Augenblick seine bezwingende Wir-

kung nie verfehlen, aber die Suggestion verliert sich
bald wieder, während ein künstlerisch beseelter Aus-
druck, der ein Bild wie ein unsichtbares Atmen und
Strömen durchzieht, eine unbegrenzte Dauer der gei-
stigen Spannung und lebendigen Empfindung ver-
spricht. Die Beweinungen von Correggio oder Tinto-
retto. die als Künstler dem beginnenden Manierismus
angehören, üben eine stärkere Gefühlswirkung aus
als vi eileicht die Pieta von Michelangelo oder die große
Beweinung von Tizian, aber die Reizkraft ihrer Bil-
der wird bald von der Bewunderung ihres rätselhaften
Könnens abgelöst, während bei Tizian oder Michel-
angelo dieses Können, weil es dem Ausdruck formal
kongruent ist, gar nicht beachtet und als selbstver-
ständlich hingenommen wird. Rembrandt war in sei-
ner manieristischen Jugend oft maßlos in der Drastik
seiner Köpfe und Handlungen, während er im Alter
ganz in sich gesammelt und gereift die tiefste Aus-
drucksgewalt der Malerei erlangte. Der Ausdruck in
der Kunst ist weitgehend ein Mittel des Stiles, und der
einzelne Künstler ist darin abhängig von den Zeitbe-
dingungen, in die er hineingeboren wird. Nur der
höchste und reinste Ausdruck eines Werkes bleibt im-
mer das Geheimnis der Persönlichkeit des Künstlers.

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