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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 23.1925

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Heft 8
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Demmler, Theodor: Deutsche Kunst vom Oberrhein: (zur Ausstellung im Kaiser-Friedrich-Museum, Berlin)
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https://doi.org/10.11588/diglit.4653#0323

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ZWEI PROPHETEN. STRASSBURG UM 1470. ABB. 3

AUSSTELLUNG IM KAISER-FRIEDRICH-MUSEUM

Seitenstücke in Alabaster erhalten sind. Die große sitzende
Madonna mit dem länglichen Gesichtsoval mag etwa gleich-
zeitig mit den Hauptwerken von Witz entstanden sein, doch
wirkt sie provinzieller, derber, und im Gewandstil rück-
ständig, gegenüber dem scharfbrüchigen Kontur der Stoff-
massen des Malers. Erst nach der Mitte des Jahrhunderts
erhebt sich die Bildhauerei, soweit wir sehen, zur führen-
den Kunst. Nicolaus Gerhaert, der, aus Trier kommend,
nicht ganz ein Jahrzehnt in Straßburg wirkt (bis etwa 1469),
ist nicht ihr Erwecker, doch als Anreger von unwidersteh-
licher Kraft. Faßt man seine „Anna selbdritt" (Abb. 2) ins
Auge, eine Reliefgruppe aus Stein von derselben Größe
und ähnlichem Gegenstand wie die fünfzig Jahre ältere
„Geburt Christi", so scheint das ganze Weltbild verändert,
das Träumende zu bewußtem Leben erwacht, das beobach-
tende Auge geschärft, die bildende Hand an Geschicklich-
keit und Feinfühligkeit unendlich bereichert, die Kompo-
sition auf Schatten und Licht, auf wirksame Bewegungs-
kontraste gestellt, der Umkreis des Darstellbaren erweitert,
die Wirklichkeit des Alltags hereingezogen, aber nicht mit
den naiven Mitteln kindlicher Schilderung, sondern mit der
Gestaltungskraft reifen Könnens.

Die Menschen des neuen Stils sind in leidenschaftlicher
Erregung dargestellt. Auch wo sie schweigen und sinnen,
wie die eine der Prophetenhalbfiguren, die vielleicht für
das Straßburger Münster geschaffen wurden (Abb. 3), spürt
man das Feuer, das sie beseelt; ja der Charakterkopf des
stillen Glaubenshelden verrät vielleicht noch mehr von der
neuen Kraft und Würde der Menschengestaltung als der
laute Rufer im Streit mit dem geöffneten Mund. Und wie

ergänzen sie einander, als Temperamente, als Menschen-
gattungen, als bildnerische Formungen!

Die oft gezeigte „Madonna von Dangolsheim" (Abb. 4),
dies anmutigste und eigenartigste Marienbild des deutschen
Quattrocento, hat neben dem kunstvollen Bewegungs-
motiv auch altertümliche Züge. Ihr Meister mag älter
sein als Gerhaert, von ihm nur gefördert, zur höchsten
Leistung angeregt, daneben aber ältere Ideale fortbildend,
die wir im Anfang des Jahrhunderts bei den „schönen
Madonnen" bewundern. Der halb träumerische, halb
sinnliche Ausdruck des Köpfchens, die Rolle des Gewandes,
das hier als Gegenspieler zum Körper erscheint, nicht als
sein Diener, der Eigenwert des Linienspiels in den Falten-
brüchen, und dem Lockengeringel — das alles sind Züge,
die von Gerhaerts straffer Komposition, von seiner allen
Reichtum bändigenden Sachlichkeit weg zu einer andern,
mehr dekorativen Kunstweise überleiten. Sie ist es, die
nach Gerhaerts Weggang zunächst die Führung behält, sich
auslebt bis zur Manier; erst beim Beginn des neuen Jahr-
hunderts löst eine neue Welle sie ab, die in den groß und
rein empfundenen Statuen des Isenheimer Altars und des Frei-
burger Martinsmeisters gipfelt. Diesem letzten Kapitel gehören
zwei männliche Figuren an, die wiederum als Paar gedacht,
als Gegensätze der äußeren Erscheinung und des seelischen
Ausdrucks aufeinander abgestimmt sind. Liebenswürdige,
kleinere Seitengänger dieser Richtung schufen amüsante
Reliefs, wie den „Schlafenden Krämer" (Abb. S. 322) oder die
sitzende Madonna, die dem Schnewelin-Altar im Freiburger
Münster nächstverwandt ist. Ihre Kunstweise setzt schon
die Kenntnis von Dürers Graphik voraus, die hier wie

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