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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 23.1925

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Heft 11
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Wellington, Hubert: Die neueste Malerei in England, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.4653#0437

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Erscheinung, die Form und die Farbe der Bilder han-
delt, während die psychologische, teils puritanische
teils mystische Tendenz, die hinter der seltsamen
und ernsten Eindringlichkeit eines Madox Brown,
Rossetti oder Holman Hunt steckt, tief eingewur-
zelt ist und jeden Augenblick zu neuem Aufblühen
bereit zu sein scheint, ja Anklänge daran sind bei
vielen unserer Zeitgenossen nachzuweisen. Die Saat
des Impressionismus, die mancher junge in Paris
studierende englische Maler in sich aufgenommen
hatte, wollte in England niemals recht aufgehen.
Wenigstens wurde der reine Impressionismus, der
die Erscheinung wiedergab, sich nicht um das Wesen
der Dinge, um die Art des Sujets oder literarische
und poetische Assoziationen kümmerte, sondern
lediglich den Eindruck durch das Spiel über das
ganze Bild verteilter Farbenflecke erzielte, niemals
bodenständig. Der Impressionismus im weiteren
Sinne, die Wiedergabe der Schönheit des Lichts
und atmosphärischer Wirkungen, eine Bewegung,
deren große Vorläufer Constable und Turner waren,
hatte immer seine Anbänger in unserem Lande und
wurde durch die Berührung mit Monet, Pissarro und
ihrem Kreis bereichert. In Wilson Steer, der viele
englische und französische Nuancen in sich ver-
einigte und sein ihm eigentümliches Gefühl für leuch-
tende Farben hinzutat, bringt die Tradition einen
Maler hervor, dessen große Landschaften und fein-
farbige Interieurs reizvoll, zugleich wahr, und in
ihrer Empfindung durchaus englisch sind. Das
Ideal der Impressionisten der siebziger und acht-
ziger Jahre, den Farbenglanz und das Spiel des
Lichts in ihren Bildern immer weiter zu entwickeln,
bestimmt auch das Schaffen von Henry Tonks
und William Rothenstein, obgleich sie in Hinsicht
der Zeichnung stark von den impressionistischen
Anschauungen abweichen. Denn beide Künstler
begnügen sich nicht mit der Wiedergabe der äußeren
Erscheinung, sondern suchen in ihren Bildern die
richtig verstandene und konstruierte Form und den
treffenden Ausdruck des Charakters und der Emp-
findung des Menschen. In beiden ist das Gefühl
für das Komische und Dramatische des täglichen
Lebens stark ausgeprägt und in den Gruppierungen,
in dem Mienenspiel und den Bewegungen ihrer
Umgebung fanden sie eine reiche Quelle maleri-
scher Anregungen. In dieser Vorliebe folgen sie
der eigentlich englischen Tradition, die Künstler
wie Hogarth, Wilkie, Madox Brown und große

Illustratoren wie Cruickshank, Rowlandson, Millais
und Charles Keene zu den ihren zählt. Die An-
schauung von der Kunst als einer spontanen Re-
aktion auf die Erscheinungen des Lebens ist im
englischen Geist tief eingewurzelt, und wo eine
Trennung zwischen Kunst und Leben fühlbar wird,
wendet man sich instinktiv davon ab. Die Beliebt-
heit, deren sich die Ästheten und das Prinzip des
l'Art pour l'Art erfreuten, ging schnell vorüber
und hat überhaupt nur in einem kleinen und be-
grenzten Kreise Anhänger gefunden. Ihren beding-
ten Erfolg verdankt diese Strömung weniger dem
Glauben an ihre innere Berechtigung als dem star-
ken Eindruck, den Persönlichkeiten wie Wilde und
Whistler auf einen Teil des Publikums ausübten.
In der Literatur finden wir eine ähnliche Erschei-
nung: im zwanzigsten Jahrhundert sind Samuel But-
ler und Bernard Shaw die einflußreichsten Schrift-
steller, beide Propagandisten, beide voller Mut und
geistiger Unabhängigkeit, beide aber allen gedank-
lichen Gebieten abhold, die nicht in engem Zu-
sammenhang mit dem menschlichen Dasein stehen.
Whistlers Malerei wirkte viel stärker auf seine Um-
gebung als seine Theorie. Der Hauch von Vornehm-
heit, der von den auf seinen Porträts dargestellten
Persönlichkeiten ausging, der gedämpfte Lokalton
seiner Bilder, der durch die zwischen dem Maler
und seinem Objekt vorhandene Atmosphäre ent-
steht, seine reizvolle Behandlung des Schwarz und
Weiß, entzückten und beeinflußten fast jeden fein
empfindenden Maler in dem Zeitraum zwischen
1890 und 1900.

Walter Sickert, ein Schüler Whistlers und ein
Freund von Degas und Manet, war von allen eng-
lischen Malern am meisten kosmopolitisch orientiert
und repräsentierte das Bindeglied zwischen fran-
zösischer und englischer Malerei. Sowohl als Lehrer
wie als Künstler übte er einen großen und anregen-
den Einfluß auf jüngere Künstler aus und als älte-
rer Bruder in der herrschenden europäischen Tra-
dition erzogen, hat er viele aufblühende Talente
und jüngere Malervereinigungen gefördert. Seine
Bilder sind, als Ausdruck seines eigenen Wesens,
voller Feinheiten und komplizierter Nuancen, die
er durch eine so bewußte Technik erreicht, daß sie
unbewußt erscheint. In ihr verschmelzen sich die
matten Töne Whistlers, die merkwürdige Vision
eines Degas, die Pinselführung, das Können und
die malerischen Qualitäten Guardis und der Vene-

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