Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Bayerischer Kunstgewerbe-Verein [Hrsg.]
Kunst und Handwerk: Zeitschrift für Kunstgewerbe und Kunsthandwerk seit 1851 — 52.1901-1902

DOI Artikel:
Lueer, Hermann: Das Fortschrittliche in der Kunsttischlerei
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.7007#0126

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Das Fortschrittliche in der Aunsttischlerei.

Zweifellos geht nun mit der gesteigerten Inan
spruchnahme des Materials eine gewisse Schwächung
pand in pand; unsere Sorge muß also darauf gerichtet
sein, nrit uirseren technischen Hilfsmitteln den prakti-
schen Forderungen nach Leichtigkeit und Bequemlich-
keit das Gleichgewicht zu halten — in dein Sinne
dürfte den gebogenen formen die Zukunft gehören.
Der seit dem Altertum zur Bezwingung des Ma-
terials aufgenommene Kampf wird siegesmutig
weiter geführt; die Entwicklung ist, sofern man die
praktische, technische Seite des Möbelbaues ins Auge
faßt, wieder in ganzem Umfange angeknüpft; jeder
ist bereit, fördernd mitzuwirken.

Es fragt sich nun, ob unsere neuzeitige Möbel-
kunst ebenso wie in technischer auch in ästhetischer
Beziehung als wirklich der uns angemessenen Ent-
wicklungsstufe entsprechend, als fortschrittlich ange-
sehen werden darf. Die ästhetische Entwicklung
äußert sich in der Möbelkunst in dem wandelbaren
Verhältnis der Konstruktionsformen zu den Schmuck-
formen. Unser ästhetisches Empfinden verlangt, daß
jedes Gebilde, jedes Glied derart gestaltet ist, daß
seine innere, technische Funktion, seine praktische Be-
deutung äußerlich kenntlich ist. Durch einige grund-
sätzlich verschiedene Formungsweisen ist dieses Ziel
erreichbar.

Den ersten Typus vertritt in seiner Vollkommen
heit die griechische Antike. Dasselbe Formungs-
princip, das uns aus der griechischen Baukunst be-
kannt ist, erkennen wir auch in den vereinfachten
Möbeldarstellungen der Vasenbilder. Die innere Be-
deutung der Konstruktionsglieder wird durch eine
auf das Mindestmaß beschränkte, höchst ausdrucks-
voll wirkende Bekleidung erzielt; jedes konstruktive
Glied läßt seine Bestimmung ohne weiteres äußerlich
erkennen. Und wie das Tragende bei der Säule be-
sonders durch das Kapital ausgedrückt wurde, so
geschah es in ähnlicher Meise auch an den Beinen
der Ruhebänke rc. Konstruktion und Ornament sind
zu einer auch technisch untrennbaren Einheit ver-
bunden.

Doch diese innige Verbindung löst sich mehr
und mehr im Laufe der Jahrhunderte, ebenso wie
in der Architektur auch in der Möbelkunst. Man
vergegenwärtige sich einige Möbel der spätgotischen
Periode, z. B. einen reicheren, im Unterbau kasten-
artig geschlossenen Lehnstuhl oder einen der großen
süddeutschen Schränke mit den schlicht-breitrahmigen
Thüren und den reichen Füllornamenten. Bei diesen
Möbeln wird uns die technische Bedeutung der noch
offen zu Tage tretenden klar disponierten Konstruk-
tionsglieder weniger direkt durch die Art der Be-
kleidung, vielmehr indirekt durch den Gegensatz zu

den an sich wenig ausdrucksvollen Füllformen zum
Bewußtsein gebracht. Das'Fülloruament scheint äußer-
lich eine technische Aufgabe nicht mehr zu erfüllen,
in der That ist es aber von der Konstruktion nicht zu
scheiden, in seiner Masse ein Teil von ihr. Leichter
erkennbar wie bei den süddeutschen Schnitzmöbeln
wird das z. B. bei den niederdeutschen Beschlag-
möbeln der Zeit; bei diesen ist der reiche Eisen-
beschlag offenkundig ebenso sehr Ornament wie Kon
struktion.

Jm s6. und mehr noch im {7. Jahrhundert
tauschen Konstruktion und Ornament, dem 15. Jahr-
hundert gegenüber, die Rollen; man denke an die
in Art einer Hausfacade mit Säulen, Gebälken und
Giebeln ausgestatteten Schränke. Die sichtbaren
Glieder erfüllen nun nicht mehr die technische Auf-
gabe, deren Repräsentant sie äußerlich zu sein
scheinen; die schmückende Bekleidung scheint zugleich
Konstruktion zu sein, ist aber nur Zuthat. Die Kon-
struktion ist völlig verhüllt; für das Auge nimmt sie
keinen Anteil mehr am Ausgleich zwischen Tragen
und Lasten. Das aus Säulen und sonstigen, vor
allem in der Baukunst verwendeten Formen gebildete
Ornament ist von der Konstruktion losgelöst, es ist
zum Selbstzweck geworden; nur um die Schmuck-
glieder anbringen zu können, scheint das Ganze da
zu fein.

And geht man noch einen Schritt weiter zu den
Möbeln der Rokokoperiode, dann zeigt sich, daß das
Ornament nun nur noch ein Bereicherungsmittel ist,
das keinen Anteil mehr daran hat, die innere
Funktion der konstruktiven Glieder auszudrücken.
Vergegenwärtigt man sich das Bein eines Rokoko-
stuhles oder -Tisches, dann sieht man auch bei diesen
die Tragfähigkeit aufs deutlichste ausgesprochen, aber
nicht mehr, wie etwa in der Antike, durch kapitäl-
artige Glieder oder dergleichen. Die innere Funktion
wird nun durch die Eigenbewegung, durch die Linien-
führung der Konstruktionsglieder selbst ausgedrückt.

Die den Konstruktionsgliedern beigefügten
Schmuckformen sind dem j 7. Jahrhundert gegenüber
noch mehr eine Zuthat und geschieden von der
Konstruktion; sie verhüllen deren eigene Ausdrucks-
fähigkeit eher, als daß sie sie steigern. Die Kon-
struktionsteile sind in sich schon zu Ziergliedern ge-
worden, ohne dabei Zweifel aufkommen zu lassen,
daß sie vornehmlich konstruktive Zwecke erfüllen.

Offenkundig schreitet also die ästhetische Ent-
wicklung seit der Antike in dem Sinne fort, daß die
ornamentalen Zuthaten immer mehr von der Kon-
struktion losgelöst werden und die Konstruktion
schließlich die vornehmste Aufgabe des Ornamentes
mit übernimmt.
 
Annotationen