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Bayerischer Kunstgewerbe-Verein [Hrsg.]
Kunst und Handwerk: Zeitschrift für Kunstgewerbe und Kunsthandwerk seit 1851 — 52.1901-1902

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Schulze, Otto: Jugendstil-Sünden
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https://doi.org/10.11588/diglit.7007#0218

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Iugendstil-5ünden.

3^(. Müllersches volksbad, München. Anskleide- nnd Rnheräume beim Dampfbad.
Architekt Karl bfocheder.

öffnen wird. — Aber die
„fugend" ist an den sogenannten
„Jugendstil-Sünden" so nitbe-
teiligt und schuldlos, wie ich etwa
daran, daß — Georg Hirth diese
Jugend, Gott gebe ihr ein langes
Leben, schuf.

And sollen wir denn immer
und immer wieder mit erblichen
Belastungen zur Grube fahren,
die nicht nur uitsere Väter, son-
dern schon unsere Groß- uitd
Urgroßväter abluden auf unsere
jungen Schultern und Blößen,
die doch nun einmal die „Jugend"
so unschuldig und harmlos zur
Schau trägt, nicht wie Groß-
mutter so ängstlich bedeckt aus
Anlaß der Taufe ihres zwanzigsten
Enkels. ■— Und ich denke hierbei
des köstlichen Bildes aus Anne-
Maries Jugendzeit, die sich der
Mutter gegenüber mit fänden
und Füßen wehrt, daß ihrem
mehr als durchsichtigen faden-
scheinigen alten Kleide wieder ein
alter Lappen ausgeheftet werden
wird. Und mit der ganzen In-
brunst des nur dem Kinderherzen
eigenen Bettelns und Bittens
verlangt Anne-Ularie neue —
bunte Lappen an Stelle der aus
Vaters alter Jacke gewonnenen
Fetzen. Mutter belehrt, daß das
Alte nicht widerstandsfähig genug
sei, einen derben, neuen Flicken
zu halten, denn dieser würde bald
wieder aufklaffen. Umsonst, das Kind verlangt keine
Belehrung — es will die Freude, und wenn dann
wirklich die Sonne die nackten Schultern streift, so streift
sie doch auch die bunten Lappen. Und Anne-Marie
denkt: und wenn wieder ein Lappen hinzukommt,
natürlich inuß es wieder ein bunter neuer fein, und
so fort, dann bekomme ich doch sicher auf diese Art
schließlich ein neues Kleid. „Sieh, liebe Mutter, ich
bin ja noch jung und der Jugend kleidet alles, unter
Umständen auch eine Schmutznase." —

Ein tiefer Sinn liegt oft im kindischen Spiel.
So hat auch dieses Gebühren Anne-Ularies, des
naiven Volkskindes, eine ernste Nebenseite. Gder
können wir nicht etwa ein ähnliches Verlangen
herausfühlen, ihm nachspüren in allen Denkmälern,
in allen Blättern der Kultur* und Kunstgeschichte?

Und hat nicht etwa unsere restaurationswütige Zeit
so manches wunderbare Flickenkleid nicht erst zu
einem wirklich alten Kleide gemacht, indem neue
Lappen wieder heruntergerissen und dafür alte
Lappen — es sollten wenigstens welche sein —
aufgesetzt wurden, um ja der Ehrwürdigkeit die
Ehrwürdigkeit zu lassen? Zu keiner Zeit hat man
dem Neuen und Werdenden so scharf zugesetzt, wie
in unseren Tagen. — Wie war es dagegen früher?
Durste sich kein Erker gotischen Stils an ein romani-
sches paus schmiegen, kein Renaissancegitter einen
gotischen Marktbrunnen zieren oder ein barockes
Portal sich in einen Renaissancebau einfügen? Und
die herrlichen Grabtafeln, Epitaphien, Altäre, Kanzeln
und Gestühle und gar die Barock- und Rokoko-
dekorationen auf gotischen Pfeilern und Gewölben

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