DER KÜNSTGEWERBLICHE GESCHMACK IN ENGLAND.
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Fournire an den Möbeln des 18. Jahrhunderts hin.
Gleichzeitig war auch in Paris der Geschmack der
späteren Stilarten, speciell des Louis XVI, wie-
der lebhafter in Aufnahme gekommen. So kam es,
dass man das englische Mobiliar des 18. Jahr-
hunderts wieder hervorsuchte, studirte, nachahmte,
und dass dadurch neuerdings die ganze Formenwelt
des englischen Möbels modificirt worden ist. Man
darf heute den „englischen Stil" nicht mehr ein-
seitig als gotisirend auffassen.
Der englische Geschmack und das englische
Mobiliar hatten seit der Renaissance, vornehmlich
mi 18. Jahrhundert, eine eigene und einheitliche
Tendenz bewahrt. Nicht das Barock, nicht das Ro-
Techniken, Fournire und Schnitzereien, bequeme Pol-
sterung, mancherlei Kurven, alles Neuerungen gegen
die Renaissance; namentlich die Stühle sind bezeich-
nend mit ihren hohen geschnitzten Lehnen und den
breiten Sitzen; die Formen streben nach imposanter
Wirkung, ohne den klassierenden Zeitgeschmack zu
verlassen, der dem gesunden englischen Sinne zu-
gesagt zu haben scheint.
Im Gegensatz zu diesem gemessenen Stile ist
das launige Rokoko in England weder damals noch
heute auf einen günstigen Boden gefallen. Wie die
Deutschen, lernten auch die Engländer das Rokoko
nicht in seiner strengeren Frühzeit, während der
„Regence", kennen, sondern erst in den überreifen,
Abb. 3. Stühle voii Th. Chippendale, 1754.
koko, sondern ein maßvoller, nüchterner Klassicis-
mus ist dort vorwiegend in Gebrauch gewesen. Am
Ende des 17. Jahrhunderts ward die heimische Re-
naissance nicht durch den wuchtigen Barockstil ab-
gelöst, der in Italien und in Deutschland herrschte,
sondern die klassicirende Richtung, die in Paris
durch Ludwig XIV. getragen wurde, schlug ihre
Wellen über den Kanal hinüber. Als Wilhelm III.
von Oranien 1688 das Land eroberte, brachte er
den holländischen Geschmack mit, der ebenfalls von
Paris beeinüusst war. Die Möbel aus der Zeit Wil-
helm's III. und seiner Nachfolgerin, der „Queen
Anne", die von 1702 bis 1714 regierte, ähneln denen
des Louis XIV-Stils; große Maßstäbe, kunstvolle
Kunstgewerbeblatt. N. F. IV.
gefährlichen Formen des ausgeprägten Muschelstils,
als sich in Paris für ziemlich kurze Zeit der Ge-
schmack an heftigen Kurven, wilder Unsymmetrie
und gewagtem Naturalismus durchgesetzt hatte. Wie
die englischen Holzbildhauer und Tischler diese For-
men auffassten, können wir aus einer Reihe von
Muster- und Lehrbüchern jener Zeit ersehen, aus
den Stichen von H. Copeland, M. Lock, Th. John-
son u. a., und aus den verschiedenen stattlichen
Kupferwerken, die von Möbelfabrikanten als Kata-
loge publizirt wurden.1)
1) Mehrere Ausgaben von einer „Society of Upholsterers",
von Robert Manwaring, von der Firma Inoe & Mayhew u. a.
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Fournire an den Möbeln des 18. Jahrhunderts hin.
Gleichzeitig war auch in Paris der Geschmack der
späteren Stilarten, speciell des Louis XVI, wie-
der lebhafter in Aufnahme gekommen. So kam es,
dass man das englische Mobiliar des 18. Jahr-
hunderts wieder hervorsuchte, studirte, nachahmte,
und dass dadurch neuerdings die ganze Formenwelt
des englischen Möbels modificirt worden ist. Man
darf heute den „englischen Stil" nicht mehr ein-
seitig als gotisirend auffassen.
Der englische Geschmack und das englische
Mobiliar hatten seit der Renaissance, vornehmlich
mi 18. Jahrhundert, eine eigene und einheitliche
Tendenz bewahrt. Nicht das Barock, nicht das Ro-
Techniken, Fournire und Schnitzereien, bequeme Pol-
sterung, mancherlei Kurven, alles Neuerungen gegen
die Renaissance; namentlich die Stühle sind bezeich-
nend mit ihren hohen geschnitzten Lehnen und den
breiten Sitzen; die Formen streben nach imposanter
Wirkung, ohne den klassierenden Zeitgeschmack zu
verlassen, der dem gesunden englischen Sinne zu-
gesagt zu haben scheint.
Im Gegensatz zu diesem gemessenen Stile ist
das launige Rokoko in England weder damals noch
heute auf einen günstigen Boden gefallen. Wie die
Deutschen, lernten auch die Engländer das Rokoko
nicht in seiner strengeren Frühzeit, während der
„Regence", kennen, sondern erst in den überreifen,
Abb. 3. Stühle voii Th. Chippendale, 1754.
koko, sondern ein maßvoller, nüchterner Klassicis-
mus ist dort vorwiegend in Gebrauch gewesen. Am
Ende des 17. Jahrhunderts ward die heimische Re-
naissance nicht durch den wuchtigen Barockstil ab-
gelöst, der in Italien und in Deutschland herrschte,
sondern die klassicirende Richtung, die in Paris
durch Ludwig XIV. getragen wurde, schlug ihre
Wellen über den Kanal hinüber. Als Wilhelm III.
von Oranien 1688 das Land eroberte, brachte er
den holländischen Geschmack mit, der ebenfalls von
Paris beeinüusst war. Die Möbel aus der Zeit Wil-
helm's III. und seiner Nachfolgerin, der „Queen
Anne", die von 1702 bis 1714 regierte, ähneln denen
des Louis XIV-Stils; große Maßstäbe, kunstvolle
Kunstgewerbeblatt. N. F. IV.
gefährlichen Formen des ausgeprägten Muschelstils,
als sich in Paris für ziemlich kurze Zeit der Ge-
schmack an heftigen Kurven, wilder Unsymmetrie
und gewagtem Naturalismus durchgesetzt hatte. Wie
die englischen Holzbildhauer und Tischler diese For-
men auffassten, können wir aus einer Reihe von
Muster- und Lehrbüchern jener Zeit ersehen, aus
den Stichen von H. Copeland, M. Lock, Th. John-
son u. a., und aus den verschiedenen stattlichen
Kupferwerken, die von Möbelfabrikanten als Kata-
loge publizirt wurden.1)
1) Mehrere Ausgaben von einer „Society of Upholsterers",
von Robert Manwaring, von der Firma Inoe & Mayhew u. a.
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