Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Kunstgewerbeblatt: Vereinsorgan der Kunstgewerbevereine Berlin, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld, Frankfurt a. M., Hamburg, Hannover, Karlsruhe I. B., Königsberg i. Preussen, Leipzig, Magdeburg, Pforzheim und Stuttgart — NF 17.1905-1906

DOI Artikel:
Becker, F.: Das neue Leipziger Rathaus
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.4870#0027

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
i6

DAS NEUE LEIPZIGER RATHAUS

welche der unregelmäßig viereckige Bauplatz bot. —
Die anschließende große Westfassade und noch mehr
die Nord- und Ostfassade sind einfacher gebildet, da
die erstere den Zugang zu den Geschäfts- und Wirt-
schaftsräumen vermittelt und bei den letzteren beiden
verhältnismäßig enge Straßen keine besondere Außen-
wirkung zulassen. Aber dafür haben diese Seiten
durch eine tief einspringende Ecke mit dem Eingang
zu dem originellen und sehenswerten Ratskeller einen
besonderen Schmuck erhalten. Diese mit Kunst, Ge-
schmack und Humor zu reizvollster, intimer Wirkung
gebrachte Ecke schafft hier ein Gegengewicht zu der
Isoliertheit des Baues, sie erweckt die Vorstellung
eines jener stimmungsvollen Plätze, wie man sie an
alten Rathäusern bisweilen findet.

Bei dem flüchtigen Umgang um den riesigen
Gebäudekomplex, der nicht weniger als 10016 qm
bedeckt, haben wir den 100 m hohen Turm im
Innern des Ganzen noch nicht erwähnt. Er beherrscht
mächtig emporragend die ganze Gruppe und stellt
mit seinem schlanken Schafte und dem weich und
gefällig ausladenden Helme die ästhetisch wirksame
Dominante dar. Auch verknüpfen sich historische
Erinnerungen mit ihm, denn sein unterer Teil bis
zur Höhe von 45 m ist der alte Pleißenburgturm,
ein Wahrzeichen des alten Leipzig.

Weiter haben wir bisher eine Frage außer acht
gelassen, die peinliche Leute vor allem anderen zu
erledigen pflegen: die Frage nach dem Stil des neuen
Rathauses. Aber das ist hier nicht so schnell getan
als z. B. beim Hamburger oder Münchener Rathause.
Das große Werk Hugo Lichts hat einen Stil und zwar
einen sehr eindrucksvollen, harmonischen, vor allem
einen ganz persönlichen Stil. Die Formensprache ist
weder prononciert modern, noch ist sie die der deutschen
Hochrenaissance, woran Giebel und manches Detail
erinnern. Williger scheint sich der Baukünstler von
glücklichen Lösungen und Einfällen der verschiedenen
historischen Stile bis zur Antike inspirieren lassen zu
haben, als er den radikalen Modernen mit ihrer Originali-
tätssucht gefolgt ist. Nicht in den Schnörkeln und
Eigensinnigkeiten sieht er das Wesen des modernen Stils,
sondern in einer geistvollen Weiterbildung wertvollen
Kunsterbes und der Verwertung von Erlerntem und
Selbsterfundenem für neue Architekfuraufgaben. In
diesem Sinne ist das Leipziger Rathaus ein hervor-
ragend modernes Gebäude, ein Werk aus einem Gusse,
im großen und kleinen einen wahren Schatz von
guten Lehren und fruchtbaren Anregungen gebend.

Bevor wir von dem Inneren reden, muß noch ein
Wort des Lobes dem Skulpturenschmucke gewidmet
werden, der so viel zur Wirkung des Äußeren bei-
trägt. In erster Linie hat sich hier der Münchener
Georg Wrba verdient gemacht, indem er viele Dutzende
seiner phantasievollen und volkstümlichen Reliefs und
Tier- und Menschenfiguren entworfen hat. Der Humor
romanischer und gotischer Steinmetzen scheint da neu
erwacht zu sein und übt seine herzerfreuende Wirkung
heute wie damals. Aus der Fülle dieser Arbeiten,
die kürzlich in den Gipsmodellen eine ganze Aus-
stellung des Leipziger Kunstgewerbemuseums füllten,

seien hervorgehoben: der gewaltige Löwe auf dem
Giebel der Südwestfassade und der kolossale Kopf
der Lipsia auf dem Hauptgiebel an der Südfront,
ferner der urkomische, riesige Fratzenkopf und der
selig-trunkene Löwe an der Ecke zum Weinkeller und
die Sirenenfiguren an der Treppe daneben. Auch die
beiden riesigen Portallöwen sind Wrbas Werk, freilich,
wie mir scheint, nicht das glücklichste. Die aus-
gesprochenen Pavianköpfe, die schlappen Drachen-
und Schlangenkörper, der fehlende Sockelabschluß,
die riesigen Putten in Hochrelief und dazu die Schrift-
zeilen wirken zusammen etwas stillos.

Andere zum Teil sehr schöne, wirksame Außen-
skulpturen, Freifiguren und Reliefs, stammen von den
namhaftesten Leipziger Bildhauern: Johannes Hartmann,
Ad. Lehnert, Jos. Magr, Fei. Pfeiffer, C. Seffner, Art.
Trebst und Hans Zeißig. Von Hartmann rührt die
Figur des Amtsgeheimnisses auf dem einen Giebel
der Westfront her, von Magr die Figur der Wahr-
heit auf dem Uhrgiebel, von Trebst die der Stärke
auf dem entsprechenden linken Giebel. Zu den fünf
allegorischen Figuren auf dem Balkon der Südwestecke
haben beigesteuert: Lehnert das Buchgewerbe, Hart-
mann die Gerechtigkeit, Magr die Wissenschaft, Zeißig
die Musik, Trebst das Handwerk. Die sechs Flach-
reliefs in den Fensterbrüstungen über diesen Figuren
sind von Pfeiffer modelliert, außerdem zwei von den
vier Medaillons an der Außenwand des Stadtverordneten-
saales (Goetz und Schill); die beiden anderen (Georgi
und Tröndlin) sind von Seffners Hand. Der in diesen
Tagen verstorbene Breslauer Bildhauer Christian Behrens
hat die sechs Flachreliefs in den Leibungen der Haupt-
eingangstüren geschaffen, eigentümlich streng stilisierte,
altorientalisch anmutende allegorische Frauengestalten.

Wie im Äussern waltet auch im Innern eine wohl-
tuende Zweckmäßigkeit und ein ruhiger, vornehmer
Geschmack. Das empfindet man beim Eintritt von
der Westseite, wo bequeme Steintreppen und breite,
flachgewölbte, einfach weißgestrichene Korridore den
Zugang zu den 578 Verwaltungsräumen durch fünf
Geschosse vermitteln. Drei Lichthöfe (einer davon
mit blitzsauberen, weißemaillierten Ziegelwänden) sor-
gen für ausreichende Beleuchtung der Korridore und
Treppen, während die Verwaltungsräume direktes Licht
durch die sehr schön und abwechselungsreich gebil-
deten Fenster erhalten. Alle Einrichtungsstücke, Tische,
Stühle, Schränke und Bänke machen einen sehr ge-
diegenen, modernen Eindruck, besonders durch ihre
zweckmäßigen und einfachen Formen. Einzelne
monumentale Bänke in den Wandelhallen sind sogar
hervorragend schön und könnten es mit Florentiner
Frührenaissancemöbeln an wuchtiger und vornehmer
Wirkung aufnehmen. — Den stärksten Eindruck von
ruhiger Pracht und Würde und einer ganz persönlichen
vornehmen Schöpfung empfindet man beim Eintritt in den
Haupteingang, der durch ein hallenartiges Vestibül zu
einem ganz wundervoll vornehmen Treppenhause führt.
Auf breiten Marmorstufen mit herrlichem, aus graugrünem
Marmor schwungvoll geschnittenen Geländer geht es
aufwärts in eine zweite Wandelhalle, an der die drei
großen Säle liegen. Gleich rechts ist der Ratsplenar-
 
Annotationen