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Kunstgewerbeblatt: Vereinsorgan der Kunstgewerbevereine Berlin, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld, Frankfurt a. M., Hamburg, Hannover, Karlsruhe I. B., Königsberg i. Preussen, Leipzig, Magdeburg, Pforzheim und Stuttgart — NF 17.1905-1906

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Kunstgewerbliche Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.4870#0076

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KUNSTGEWERBLICHE RUNDSCHAU

IDEALISMUS IM KUNSTBETRIEB DER HOCH-
SCHULEN i)
Von H. Bergner

E. v. Mirbach erzählt in seiner »Geschichte der Kaiser-
Wilhelm-Gedächtnis-Kirche« (Berlin, 1897) eine kleine be-
merkenswerte Episode. Als man die feineren Steinmetz-
arbeiten der Kapitale, Friese und Bogenfelder für die im
Übergangsstil entworfene Kirche begann, ließ der Archi-
tekt nach Entwürfen »in modern realistischem Geist«, also
offenbar nach eigenen Erfindungen arbeiten. Die Sachen
fielen aber so ungenügend aus, daß Ihre Majestät befahl,
sich an die bewährten Vorbilder zu halten. Die gefertigten
Stücke wurden also beiseite gelegt und Nachbilder der
»berühmten Portale« von Gelnhausen, Brauweiler, Maria
Laach usw. geschaffen, die angeblich von ȟberraschender
Schönheit und großartiger Wirkung« sind. Das ist bezeich-
nend. Nachdem unsere Architekten ein halbes Jahrhundert
lang sich in der Reproduktion der historischen Stile geübt
haben, ist der geringste Schritt über die Nachahmung
hinaus ins Gebiet der freien Schöpfung ein Fehlschlag.
Und dies Beispiel steht nicht vereinzelt. Man kann die
Kirchen, Rathäuser, Postgebäude und sonstige öffentliche
und private Bauten zu hunderten nennen, in denen der
Baumeister lediglich die sichere, stilgerechte Beherrschung
einer historischen Formenwelt ohne eigene, persönliche
Note, ohne freie selbsttätige Schöpferkraft offenbart. Der
unverwüstliche Schönheitswert der alten Stile bringt meist
noch sehr gute Gesamtwirkungen hervor, wenn der kopie-
rende Kunstjünger nicht gar zu pedantisch und symmetrisch
veranlagt ist, aber der Kenner hat nur das zweifelhafte
Vergnügen, die »Echtheit« der zusammengestoppelten
Motive festzustellen und immer wieder alte Bekannte zu
begrüßen. Wer den Inhalt einiger der beliebten Vorlagen-
werke und Musterbücher im Kopf hat, kann dies Ver-
gnügen doppelt genießen.

An sich ist dieser Zustand noch kein nationales Un-
glück. Auch die deutsche Renaissance ist solche Nach-
ahmungskunst gewesen; ja sie ist in ihren Ursprüngen
und Quellen noch viel papierner als unsere Neuromantik.
Aber wir wollen doch höher hinaus. Wir ringen doch
um den Stil der Zukunft, den germanischen Stil. Eine
Frühgeburt des Gärungsprozesses liegt bereits zu unseren
Füßen, der Jugendstil Maler und Kunstgewerbler haben
das Zwitterding gezeugt. Man fühlt das leicht heraus.
Es fehlt die tektonische Gebundenheit, das struktive
Knochengerüst. Farben und Stimmungen machen noch
keine Baukunst. Die Architekten haben dem Vorgang
ziemlich kühl zugeschaut und sind, wenigstens soweit
»monumentale« Aufgaben in Frage kommen, den alten
Stilen treu geblieben. Die Lücke klafft jetzt so weit wie
möglich und man muß gespannt sein, wann und wie sich
einmal beide Strömungen vereinigen.

Ein drittes Element kommt hinzu, die Volkskunst.
Nachdem schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts der »Schweizer-
stil« eine ziemlich oberflächliche und unwahre Pflege ge-
funden hatte, öffnete die Regeneration der englischen
Privatbaukunst allmählich die Augen für die schlichte
Schönheit des Bauernhauses, des kleinen Bürgerhauses.
Man schätzte daran das Anspruchslose, Sachliche, Werk-
tüchtige. Während unsere Maurerpoliere sich noch mit

den verlogenen Stuckfassaden abquälen, schaffen die besten
Baukünstler in der Art wie sie einst dem biedern Maurer-
und Zimmermeister eigen war, suchen die Reize der rhyth-
mischen Massengliederung, des unsymmetrischen Aufrisses,
der gebrochenen Straßen und lauschigen Winkel wieder
zu verkörpern. Alte Techniken, alte volkstümliche Orna-
mente werden hervorgezogen und zu neuen Ehren gebracht.
Der Blick geht von hier aus weiter rückwärts. Der skan-
dinavische Holzbau mit seiner noch romanisch gefärbten
Ornamentik fesselt Gelehrte und Künstler. Ja, hinter ihm
liegt noch ein unentdecktes Land, die Kunst der Mero-
winger, der Völkerwanderung, der Bronzezeit. Das Urger-
manische ist im Begriff, aus langem, totenähnlichem Schlaf
zu erwachen. Der deutsche Geist in all seiner herben
Kraft will und wird die schöne, aber fremde Hülle brechen,
mit welcher die romanische Kultur ihn so lange umwunden
hat. In diesen aus der Tiefe des Volksbewußtseins bre-
chenden Strömungen sind andere Künste, denken wir an
Wagner und Ibsen, weit voraus. Aber hundert Begleit-
erscheinungen im ganzen Geistesleben, spontan, scheinbar
zusammenhangslos, springen aus derselben Quelle, ringen
nach demselben Ziele. Es gibt doch sehr zu denken,
daß selbst die Frömmigkeit gerade in den zartesten und
empfindlichsten Herzen mit immer stärkerer Stimme den
Ruf formuliert: »Los vom kranken, jüdischen Paulinismus,
zurück zum ,Germanen' Christus.« Würde uns jetzt ein
universales Genie geschenkt, das aller Künste und Gelehr-
samkeit Meister wäre, ja nur ein Sprecher, der den dunklen

J) Im Anschluß an: F. Seesselberg, Helm und Mitra.
Studien und Entwürfe in mittelalterlicher Kunst. 13 Seiten
Text, 65 Tafeln in Licht- und Farbendruck. Berlin, E.
Wasmuth, 1905. In Mappe M.

Kunstgewerbeblatt. N. F. XVII. H. 3

FRITZ BREMER. DAS DEUTSCHE TIEREPOS ALS MOTIVEN-
QUELLE. MITTELOOTISCH. AUS SEESSELBERO »HELM UND
MITRA«
 
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