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Meier-Graefe, Julius
Pyramide und Tempel: Notizen während einer Reise nach Ägypten, Palästina, Griechenland und Stambul — Berlin, 1927

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https://doi.org/10.11588/diglit.27195#0011
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DAS VEGETATIVE

erst recht und glaubte ein Phänomen vor sich zu haben,
während mir natürlich die Konzentration viel leichter als
anderen gelang und meine geistigen Füße Siebenmeilen-
stiefel anhatten. Oder ich war blind, und eine gelungene
Operation stattet mir die edle Himmelsgabe zurück. Dann
ist es ein reiner Zufall, wenn ich mir im ersten Augenblick
nicht den Hals breche oder verrückt werde.

Ich übertreibe nicht. Man erinnere sich, wie sich Dürer
in Venedig über die Sonne anstellte. Die Sonne von Vene-
dig, du lieber Gott, eine gute brave Mittel-Sonne! Kein
Wunder, daß sie in ihm einen Eisklumpen übrig ließ, groß
genug, um ihm noch, während er sich ihren Strahlen hin-
gab, die Sehnsucht nach ihr zu suggerieren. Er hat sich
nie auf die Sonne verlassen können.

Babuschka findet das Licht schöner als bei uns. Das
kann man nicht gut sagen, es klingt ein bißchen komisch.
Anders ja, vor allem anders, eine andere Erde, andere
Menschen, andere Tiere, andere Atmosphäre. Ob man das
ägyptische Rind mit seiner expressionistischen Struktur,
mit seinem vorgeschobenen und zugespitzten Kopf schöner
als das Holsteiner findet, hängt vom Temperament und
Gemüt ab und tut nichts zur Sache. Es sind im Aspekt
ganz verschiedene Wesen und dienen, wenn schon ähn-
lichen Zwecken, keinesfalls derselben Symbolik. Kein Ägyp-
ter wird einen dummen Menschen einen Ochsen nennen.
Ich kann es mir wenigstens nicht denken. Ich kann mir
hier alles mögliche Schöne denken, nur nichts, was im min-
desten mit unseren Begriffen übereinstimmt, kann mir
nicht vorstellen, daß mich später einmal nach dieser „Son-
nen“ frieren könnte, denn das setzt eine Intimität voraus,
für die mir alle Voraussetzungen fehlen und die mir nicht
einmal wünschenswert erscheint. Natürlich werden sich
die Voraussetzungen einstellen, das liegt in uns, und ich
werde es schließlich wie jeder vernünftige Mensch machen
und das, was unter der Sonne vorgeht, zusammenrechnen.

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