Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Meier-Graefe, Julius
Pyramide und Tempel: Notizen während einer Reise nach Ägypten, Palästina, Griechenland und Stambul — Berlin, 1927

DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.27195#0431
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
NIKE UND HERMES

des Louvre, des einzigen Werks, dessen Enthusiasmus die
Enttäuschung über tausend unzureichende überflutet;
mehr von der geschmeidigen Grazie des Sandalenmäd-
chens der Akropolis, von dem stilleren, blühenden Barock,
das man im Frankreich der Goujon und Germain Pilon
von den Griechen erbte und von dem ein letzter Schimmer
noch zu unserem Gottfried Schadow kam. Das Flächen-
spiel im Relief des Sandalenmädchens wird nicht restlos
in die Vollplastik übertragen, und nur der fragmen-
tarische Zustand hilft über manche Schwächen hinweg.
Die Hände und der wallende Schleier, der den Schwung
des Gewandes brach, haben sicher gestört. Wenn die Nike
in der einen Hand den Zweig hielt, mit der anderen den
Schleier raffte, wie die daneben aufgestellte Rekonstruk-
tion wohl mit Recht behauptet, hat der Rhythmus schwer-
lich die Banalität überwunden, und dann wäre es gerech-
ter, nicht die Meister der französischen Renaissance, son-
dern die leichtfüßigen Tänzerinnen von Carpeaux vor der
Pariser Oper als Enkel zu zitieren.

Wir bummelten auf dem Ruinenfeld herum. Es hat gro-
ßen Reiz, namentlich wenn man sich nicht den Kopf zu
zerbrechen braucht, zu welchem Tempel die Reste ge-
hören. In einem besonderen Häuschen hinter dem Mu-
seum befindet sich die große Attraktion von Olympia, eine
stehende nackte Dame ohne Füße, mit ausgesprochen
männlichen Formen in einem seifenartigen Marmor. Sie
hat ihr Kindchen auf dem Arm und steht gegenwärtig,
um den fehlenden Teil der Beine zu verbergen, in einem
Zementhaufen. Der Stil erinnert an manche Werke
des Berliner Meisters Reinhold Begas. Als wir das Ge-
bilde als den Hermes des Praxiteles festgestellt hatten,
wichen wir von hinnen.

Ohne die Landschaft und ohne Homer käme man nicht
auf die Kosten. Homer ist wesentlicher, denn man kann
sich nicht enthalten, ihn als Schlüssel zu benutzen. Man

24

369
 
Annotationen