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Frieling, Kirsten O.; Schneidmüller, Bernd [Begr.]; Weinfurter, Stefan [Begr.]
Sehen und gesehen werden: Kleidung an Fürstenhöfen an der Schwelle vom Mittelalter zur Neuzeit (ca. 1450 - 1530) — Mittelalter-Forschungen, Band 41: Ostfildern, 2013

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https://doi.org/10.11588/diglit.34757#0023

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12

1. Einleitung

lung in einem einheitlichen Tun« zusammen.68 Somit erklärt sich aus dem Gebrauch
von Kleidung als signifikantem Unterscheidungsmerkmal auch der ständige Wan-
del von Moden. Je weiter verbreitet ein Kleidungsstil ist, desto mehr büßt er an
Möglichkeit zur Distinktion ein.69
Gegenüber anderen Dingen zeichnet sich Kleidung in ihrer Eignung für Ab-
und Ausgrenzungen bzw. die Schaffung von Zugehörigkeiten dadurch aus, daß sie
unmittelbar, ohne räumliche oder zeitliche Distanz, mit ihrem Träger verbunden
ist und mit ihm in eins gesetzt werden kann.70 Gerade in dieser Eigenschaft als
>zweite Haut< ist sie deshalb auch in hohem Maße relevant für die Konstituierung
und Stabilisierung von individuellen und kollektiven Identitäten, die in zwischen-
menschlichen Begegnungen ausgebildet werden.71 In der mittelalterlichen Stände-
gesellschaft, die wesentlich auf nonverbalen Ausdrucksformen gründete72, kommt
Kleidung für Prozesse der Identitäts- und Gruppenbildung um so mehr Bedeutung
zu, als ihr dort ein ausnehmend hoher Stellenwert als Vergegenständlichung ge-
sellschaftlicher Verhältnisse eingeräumt wurde.73 Eben deswegen eröffnete sie dem
Einzelnen vielfältige Möglichkeiten, gesellschaftliche Erwartungshaltungen ge-
zielt zu durchbrechen, die Grenzen >des Tragbarem auszuloten, Geltungsansprü-
che mehr oder weniger subtil zu formulieren und Identitätsentwürfe pointiert zu
verhandeln.74
Dieses maßgeblich aus der angenommenen Übereinstimmung von Sein und
Schein resultierende Potential machte sicherlich im Mittelalter die eigentliche At-
traktivität von Kleidung als >Medium der Selbst- und Fremdverortung< (Keupp)
aus75, das vestimentäre Spiel mit sozialen Konventionen barg aber auch Risiken.
Denn die Mehrdeutigkeit der Kleidungszeichen schuf zwar Raum für persönliche
Interpretationen, ließ es gerade dadurch jedoch unvorhersehbar werden, ob ein ge-
wähltes >Outfit< von den Betrachtern im intendierten oder einem gänzlich anderen
Sinne ausgedeutet werden würde. Will der Historiker indes solche Aushandlungs-
prozesse und Distinktionsbemühungen in mittelalterlichen Bekleidungsweisen
freilegen, kann er sich freilich kaum auf explizite Deutungsangebote zeitgenössi-
68 Ebd.
69 Mit Blick auf Stile allgemein Bourdieu, Klassenstellung und Klassenlage, 1974, S. 65.
70 Dinges, Von der >Lesbarkeit der Welt<, 1993, S. 91; Jütte, Bulst, Einleitung, 1993, S. 2.
71 Umfassend entwickelt nun bei Keupp, Die Wahl des Gewandes, 2010, programmatisch S. 32-
38.
72 Vgl. dazu in konzentrierter Form Althoff, Zur Einführung, 2001. Daß die Erforschung von
Zeichen und Symbolen deshalb wesentliches zum Verständnis des Mittelalters bzw. der Vor-
moderne beisteuern kann, zeigen Althoff, Die Kultur der Zeichen und Symbole, 2003, und
Stollberg-Rilinger, Zeremoniell, Ritual, Symbol, 2000.
73 Im Vorwort zur deutschen Ausgabe der >Feinen Unterschiede< hat Bourdieu selbst explizit
darauf hingewiesen, daß das von ihm entworfene Modell grundsätzlich für alle geschichteten
Gesellschaften gilt, wobei das »System der Unterscheidungsmerkmale, durch die sich soziale
Unterschiede äußern oder verraten« wandelbar und »je nach Epoche und Gesellschaft« ein
»anderes« ist. Bourdieu, Die feinen Unterschiede, 1987, S. 12. Nicht zuletzt wegen dieser Of-
fenheit kommt Bourdieu den Forderungen nach einer einheitlichen Kulturwissenschaft hin-
sichtlich seiner forschungspragmatischen Umsetzung am nächsten. Vgl. dazu Flaig, Ge-
schichte ist kein Text, 1998, S. 348.
74 Ausführlich dargelegt bei Keupp, Die Wahl des Gewandes, 2010.
75 Keupp, Die Wahl des Gewandes, 2010, S. 145, spricht in diesem Kontext treffend von der »Un-
eindeutigkeit des scheinbar Offensichtlichen«.
 
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