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Frieling, Kirsten O.; Schneidmüller, Bernd [Begr.]; Weinfurter, Stefan [Begr.]
Sehen und gesehen werden: Kleidung an Fürstenhöfen an der Schwelle vom Mittelalter zur Neuzeit (ca. 1450 - 1530) — Mittelalter-Forschungen, Band 41: Ostfildern, 2013

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https://doi.org/10.11588/diglit.34757#0247

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3. Dresscodes und ihre Entschlüsselung

spiegelt sich das Bemühen um Kohärenz, in denen verschiedene >Identitätsstränge<
gebündelt und miteinander widerspruchsfrei verknüpft werden konnten: In fürst-
lichen Gewandtruhen fanden sich um 1500 sowohl Kleidungsstücke aus anderen
Ländern, die anhand ihres Schnittes zugeordnet wurden, als auch Gewänder nati-
onaler oder regionaler Moden. Die integrierende bzw. abgrenzende Funktion von
Kleidung hing davon ab, in welchem Kontext diese vom Fürsten getragen wurde.
Dabei konnte eine Mode auf einer Ebene integrieren, während sie auf einer anderen
Ebene gleichzeitig abgrenzte. Hier wird erneut deutlich, daß Kleidungspraktiken
und Moden hoch komplex und äußerst dynamisch waren.
Das gleichzeitige Vorhandensein von kulturell bedingten Grenzziehungen
und Grenzüberschreitungen in der Fürstenkleidung um 1500 gründet zunächst im
bereits thematisierten paradoxen Wesen der Mode selbst. Diese gewinnt ihre Dyna-
mik durch eine Wechselwirkung zwischen »sozialer Egalisierung« und »individu-
eller Unterschiedenheit«406, d. h. je weiter verbreitet eine Mode ist, desto mehr büßt
sie an Möglichkeit zur Distinktion ein, so daß es eines neuen Unterscheidungs-
merkmals bedarf. Als Reaktion auf eine weitere Verbreitung einer Mode wird da-
her eine andere, neue Mode generiert.407 In diesem Nebeneinander von vestimentä-
ren Abgrenzungen und Aneignungen spiegelt sich aber auch besonders deutlich
jene Wechselwirkung von »Ausgleichsbewegungen und Unausgeglichenheit« wi-
der, die Peter Moraw in einem anderen Zusammenhang für die deutsche und euro-
päische Gesellschaft dieser Zeit generell konstatiert hat.408

3.2 Die Kleidung bei Hofe

Nachdem sich das vorherige Kapitel eingehender mit der Fürstenkleidung in ihrer
Bedeutung für die Konstituierung des Reichsfürstenstandes als binnenstrukturier-
ter sozialer Gruppe auseinandergesetzt hat, rückt nun mit der Hofkleidung der Hof
als soziales Gefüge verstärkt ins Blickfeld. Anhand der Hofkleidung im allgemei-
nen und der Livree im besonderen wird ausgelotet, welchen Ordnungsprinzipien
die höfischen Kleidungspraktiken unterlagen und welche Bedeutung diesen für
die Formulierung und Durchsetzung fürstlicher Herrschaftsansprüche zukam.

3.2.1 Hof ge wand und Livree409
Das Austeilen von Stoffen oder Kleidung seitens der Obrigkeit stellte im Reich des
späten 15. und frühen 16. Jahrhunderts keine höfische Besonderheit, sondern eine
gängige Praxis dar. Vor allem Tuche, aber auch Gewänder, Kopfbedeckungen und
406 Simmel, Philosophie der Mode, 1995, S. 11.
407 Ebd., S. 13-14; ausführlicher Bourdieu, Klassenstellung und Klassenlage, 1974, S. 63-66.
408 Moraw, Über Entwicklungsunterschiede und Entwicklungsausgleich, 1995, S. 303.
409 Die terminologischen Voraussetzungen für eine eingehendere Beschäftigung mit Hofgewand
und Livree an den Reichsfürstenhöfen des späteren 15. und beginnenden 16. Jahrhunderts
sind in Kapitel 2.1.7 geklärt worden.
 
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