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Frieling, Kirsten O.; Schneidmüller, Bernd [Begr.]; Weinfurter, Stefan [Begr.]
Sehen und gesehen werden: Kleidung an Fürstenhöfen an der Schwelle vom Mittelalter zur Neuzeit (ca. 1450 - 1530) — Mittelalter-Forschungen, Band 41: Ostfildern, 2013

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https://doi.org/10.11588/diglit.34757#0054

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2.1 Terminologie und Typologie

43

All diese idealtypisch beschriebenen Kleidungsstücke im weiteren Sinne -
d. h. auch Kopfbedeckungen und Fußbekleidung - konnten in unzähligen Ausprä-
gungen in der historischen Kleidungswirklichkeit Vorkommen. Im Grunde genom-
men lassen sich die zahllosen Formvarianten jedoch auf ein Set prinzipieller
Oppositionen herunterbrechen. Es umfaßt die fünf zentralen Oppositionspaare
>kurz</>lang<, >weit</>eng<, >mit</>ohne<, >gerade</>gerundet< und >offen</>geschlossen<.154
Während die Unterscheidungen nach Länge und Weite relativ und nicht absolut zu
verstehen sind, verweist die dritte Opposition auf eine klare Alternative: Ein Klei-
dungsstücke kann beispielsweise mit oder ohne Ärmel, mit oder ohne Kragen, mit
oder ohne Knöpfe gefertigt sein. Hinter der Gegenüberstellung von geraden und
gerundeten Formen verbirgt sich die Unterteilung in spitze, zackige, stern- oder
zuckerhutförmige Kleidungselemente einerseits und runde, ovale, kugel- oder glo-
ckenförmige andererseits. Das Moment der Offenheit/Schließung bezieht sich auf
den Gegensatz zwischen freien, dekolletierten und verhüllten, bedeckten Körper-
partien.155
Aus diesem Sample von Formen-Oppositionen können nicht nur, wie Robert
Jütte gezeigt hat, stigmatisierende Kennzeichen der spätmittelalterlichen Kleidung
generiert werden.156 Es erweist sich für eine Untersuchung des symbolischen Ge-
brauchs von Kleidung im 15. und frühen 16. Jahrhundert generell als nützlich, in-
dem es ermöglicht, diese Kleidungsformen in ihren wesentlichen Grundzügen zu
beschreiben.157 Abgesteckt durch die insgesamt zehn Pole der fünf Oppositions-
paare, entsteht eine Art Raster, in welchem ein konkretes Kleidungsstück anhand
seines Schnitts verortet werden kann. Der Schnitt kann auf diese Weise als ein
zentrales Distinktionsmerkmal - neben dem Material und der Farbe - erfaßt wer-
den. Relevant wird dies etwa für die Definition höfischer Trauerkleidung, die sich
in ihren wesentlichen Grundzügen wohl zumeist überhaupt nur über einen von
der üblichen Mode abweichenden Schnitt greifen läßt.158 Auch wurden modische
Neuerungen damals hauptsächlich an geänderten Schnitten festgemacht.159
Fürstenkleidung des späteren 15. und frühen 16. Jahrhunderts bestach dem-
nach durch einen Variantenreichtum, der im Detail nahezu unbegrenzt war - und

154 Entnommen sind diese Oppositionen einem Inventar der Variantem (Barthes), das von Ro-
land Barthes, Die Sprache der Mode, 1985, erstellt und von Robert lütte, Stigma-Symbole, 1993,
- im Anschluß an Barthes - im Hinblick auf spätmittelalterliche Stigmatisierungen mittels
Kleidung selektiv übernommen wurde. Das von Barthes entworfene, wesentlich umfangrei-
chere und detailliertere Inventar findet hier - Jütte folgend - lediglich auszugsweise Berück-
sichtigung und wird, grob vereinfachend, in seinen zentralen Grundunterscheidungen wie-
dergegeben. Dementsprechend erheben diese für die höfische Kleidung des späteren 15. und
frühen 16. Jahrhunderts herausgegriffenen inventarisierten Oppositionen keinerlei Anspruch
auf Vollständigkeit und könnten etwa auf der Grundlage von Barthes Überlegungen gegebe-
nenfalls erweitert bzw. präzisiert werden.
155 Ausführlich dazu und mit wesentlich feinerer Klassifizierung Barthes, Die Sprache der Mode,
1985, S. 117-150, und in Anlehnung daran Jütte, Stigma-Symbole, 1993, S. 84-85 (bis auf die
Opposition >eng</>weit<, die dort, wohl weil sie offenbar für die spätmittelalterliche Stigmati-
sierung mittels Kleidung keine wesentliche Rolle spielte, ausgeklammert wird).
156 Vgl. Jütte, Stigma-Symbole, 1993.
157 So war es ursprünglich von Barthes für die Mode der 1950er und 1960er Jahre auch gedacht.
158 Siehe unten S. 281-283.
159 Siehe unten etwa S. 215-216, S. 281-283.
 
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