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Rahn, Johann Rudolf
Geschichte der bildenden Künste in der Schweiz: von den ältesten Zeiten bis zum Schlusse des Mittelalters ; mit 2 Tafeln und 167 in den Text gedruckten Holzschnitten — Zürich, 1876

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https://doi.org/10.11588/diglit.29817#0354

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Zweites Kapitel. Das gotliische Bausystem.

319

ZWEITES KAPITEL.

DAS GOTHISCHE BAUSYSTEM.

Fasst man in einem kurzen Ueberblicke die Erscheinungen zusammen,
unter denen sich seit dem Ende des XII. • Jahrhunderts auch in unseren
Gegenden die allmälige Ausbildung des neuen Stiles vollzog, so ergiebt
sich als erster und überall augenfälligster Fortschritt das Bestreben zu
erkennen, mit einer virtuoseren Ausbildung der Gewölbetechnik eine Er-
leichterung der baulichen Massen zu erreichen. Die strenge Würde, die
sich in der compacten Geschlossenheit und der vorwiegend horizontalen
Gliederung älterer Bauten ausspricht, weicht jetzt der Tendenz, die
Massen zu durchbrechen und so viel als möglich den Eindruck des
Lastenden zu vermeiden, ja zuletzt sogar das ästhetische Gleichgewicht
durch eine einseitig vertikale Gliederung aufzuheben.

Schon in dem Allgemeinen der Anordnung macht sich diese Rich-
tung geltend. Dort in den älteren, romanischen Bauten herrscht durch-
wegs die feste Mauermasse, die selbst da, wo die Schiffe mit Holzdielen
bedeckt sind, nur wenige und geringe Oeffnungen zeigt, die Verhältnisse
sind gedrückt, das Innere ist dunkel und verengt durch die unverhältniss-
mässig schwerfälligen Stützen. Hier, in dem gothischen Gebäude dagegen
strebt Alles nach Licht und Höhe, die Wände sind vielfältig durchbrochen,
Alles endlich ist dazu angelegt, mit dem Schmucke der Wölbung be-
deckt und bekrönt zu werden, denn diese ist es, welche den gesammten
Organismus beherrscht und deren rasche Ausbildung auch diejenige des
gothischen Systemes überhaupt bestimmte.

Die romanische Architektur hatte, wie in so mancher Hinsicht, auch
darin vorgearbeitet, so dass es sich lediglich darum handelte, aus den
überlieferten Vortheilen die nöthigen Consequenzen zu ziehen. Wie die
Kuppeln, mit denen die Römer ihre Thermen und Tempel überwölbten,
so sind die Gewölbe, mit denen man anfänglich die romanischen Basi-
liken bedeckte, mehr gegossen, als regelrecht nach dem Gesetze des
Steinschnittes gemauert. Es ist nun begreiflich, welche Stützen derartige
Wölbungen, ganz abgesehen von der Wirkung des Seitenschubes, allein
schon durch ihre passive Last erfordern. Sodann aber ist bei einer sol-
chen Structur auch die Form des Kreuzgewölbes eine fast nur zufällige.
Jene Gräten oder Diagonalrippen sind bloss zum Schein aus der Masse
formirt, ohne structive Bedeutung, ja sie bedürfen vielmehr selbst der
Stützung, denn man erkannte bald, dass der Grat gerade der schwächste
Theil des Gewölbes sei, und noch schwächer wurde, je ungleicher die
Schildbögen waren. Man suchte also diese Gräten zu stärken und fand
 
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