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Aufkommen des freien Stiles.
sich dieses erwachte Naturgefühl auch in der höheren Plastik: die Gestalten
werden belebter, die Gewandungen voller und lebendiger, immerhin mit
Beibehaltung einer grossartigen Einfachheit, welche ein Guthaben dieser im
Dienste der Architektur geschulten Plastik bleibt. Die Körperverhältnisse
sind im Allgemeinen richtig, die Behandlung des Nackten zeugt von scharfer
Beobachtung wenigstens der äusseren Erscheinungen, und die Köpfe er-
halten einen individuellen Ausdruck, wenn auch bestimmte porträtartige
Züge erst später und zwar gewöhnlich nur auf Grabsteinen Vorkommen.
Allerdings ist der Entwickelungsgang in den einzelnen Ländern ein
verschiedener. Wir beobachten dieselben Rückstände hier, und dort wieder
die frühzeitige Bekanntschaft mit den errungenen Vortheilen, wie ja ähn-
liche Unterschiede auch zwischen den einzelnen Baugruppen zu Tage treten.
Was die Schweiz betrifft, so behauptet zumal in den deutschen Landes-
theilen — es genügt an die Bildwerke des Churer Domes zu erinnern —
der romanische Stil während des ganzen XIII. Jahrhunderts seine ausschliess-
liche Elerrschaft. Selbst in den Miniaturen, in Werken des XIV. Jahrhunderts
sogar, sind hie und da noch starke romanische Erinnerungen zu beobachten.
In der That ging diessmal der Fortschritt nicht von Deutschland aus,
wo man vielmehr noch längere Zeit, und zwar bis gegen die Mitte des
XIII. Jahrhunderts, an dem romanischen Formenwesen festhielt und auf
Grund desselben einen allerdings höchst bedeutsamen Aufschwung der Plastik
erzielte, eine Blüthe, die aber nur in den Werken einzelner Localschulen
sich ausprägt und auf die allgemeine Entwickelung ohne Einfluss blieb.
Der Anstoss zur Neuerung erfolgte von einer anderen Seite; es war
Frankreich, das, wie es in baulicher Hinsicht das Land der Initiative ge-
worden, auch in der Plastik dieses Zeitalters den Reigen führte. An den-
selben Bauten, in denen das gothische System seinen raschen Sieg errang,
entfaltete sich die höchste» Blüthe des freien bildnerischen Stils, ja, wenn
einmal der Vergleich des Mittelalters mit der Antike nicht zu Ungunsten
des Ersteren gestattet ist, so sind es die französischen Kunstzustände im
XIII. Jahrhundert, welche diese Höhe bezeichnen; sie vergegenwärtigen uns
eine Epoche der Begeisterung, die, unterstützt durch die fürstliche Frei-
gebigkeit, die kühnsten und grossartigsten Unternehmungen ins Leben rief,
eine Wechselwirkung der Künste, Reinheit des Eormensinnes und eine Ent-
wickelung der Technik, lauter Erscheinungen, die in solchem Ebenmaasse
nur in wahrhaft grossartigen Kunstepochen zu beobachten sind.
Bis zum Anfänge des XIII. Jahrhunderts etwa hatte auch in Frank-
reich die Herrschaft des strengen Stiles gedauert; von da an aber regte
sich überall das Streben nach einer freieren Richtung. Die Zeiten, in denen
der künstlerische Betrieb ausschliesslich in den Händen des Clerus gelegen,
waren vorüber, und wie die Dome und Kathedralen dieses Zeitalters recht
Aufkommen des freien Stiles.
sich dieses erwachte Naturgefühl auch in der höheren Plastik: die Gestalten
werden belebter, die Gewandungen voller und lebendiger, immerhin mit
Beibehaltung einer grossartigen Einfachheit, welche ein Guthaben dieser im
Dienste der Architektur geschulten Plastik bleibt. Die Körperverhältnisse
sind im Allgemeinen richtig, die Behandlung des Nackten zeugt von scharfer
Beobachtung wenigstens der äusseren Erscheinungen, und die Köpfe er-
halten einen individuellen Ausdruck, wenn auch bestimmte porträtartige
Züge erst später und zwar gewöhnlich nur auf Grabsteinen Vorkommen.
Allerdings ist der Entwickelungsgang in den einzelnen Ländern ein
verschiedener. Wir beobachten dieselben Rückstände hier, und dort wieder
die frühzeitige Bekanntschaft mit den errungenen Vortheilen, wie ja ähn-
liche Unterschiede auch zwischen den einzelnen Baugruppen zu Tage treten.
Was die Schweiz betrifft, so behauptet zumal in den deutschen Landes-
theilen — es genügt an die Bildwerke des Churer Domes zu erinnern —
der romanische Stil während des ganzen XIII. Jahrhunderts seine ausschliess-
liche Elerrschaft. Selbst in den Miniaturen, in Werken des XIV. Jahrhunderts
sogar, sind hie und da noch starke romanische Erinnerungen zu beobachten.
In der That ging diessmal der Fortschritt nicht von Deutschland aus,
wo man vielmehr noch längere Zeit, und zwar bis gegen die Mitte des
XIII. Jahrhunderts, an dem romanischen Formenwesen festhielt und auf
Grund desselben einen allerdings höchst bedeutsamen Aufschwung der Plastik
erzielte, eine Blüthe, die aber nur in den Werken einzelner Localschulen
sich ausprägt und auf die allgemeine Entwickelung ohne Einfluss blieb.
Der Anstoss zur Neuerung erfolgte von einer anderen Seite; es war
Frankreich, das, wie es in baulicher Hinsicht das Land der Initiative ge-
worden, auch in der Plastik dieses Zeitalters den Reigen führte. An den-
selben Bauten, in denen das gothische System seinen raschen Sieg errang,
entfaltete sich die höchste» Blüthe des freien bildnerischen Stils, ja, wenn
einmal der Vergleich des Mittelalters mit der Antike nicht zu Ungunsten
des Ersteren gestattet ist, so sind es die französischen Kunstzustände im
XIII. Jahrhundert, welche diese Höhe bezeichnen; sie vergegenwärtigen uns
eine Epoche der Begeisterung, die, unterstützt durch die fürstliche Frei-
gebigkeit, die kühnsten und grossartigsten Unternehmungen ins Leben rief,
eine Wechselwirkung der Künste, Reinheit des Eormensinnes und eine Ent-
wickelung der Technik, lauter Erscheinungen, die in solchem Ebenmaasse
nur in wahrhaft grossartigen Kunstepochen zu beobachten sind.
Bis zum Anfänge des XIII. Jahrhunderts etwa hatte auch in Frank-
reich die Herrschaft des strengen Stiles gedauert; von da an aber regte
sich überall das Streben nach einer freieren Richtung. Die Zeiten, in denen
der künstlerische Betrieb ausschliesslich in den Händen des Clerus gelegen,
waren vorüber, und wie die Dome und Kathedralen dieses Zeitalters recht