GESTALT
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III. Gestalt.
Gewisse Züge der altarmenischen Kirchenbauten kehren sowohl im Bauen an sich wie in der
Austattung so selbstverständlich wieder, daß man annehmen möchte, sie seien dieser Kunstströmung
von vornherein in die Wiege gelegt. Dem armenischen Baumeister fällt gar nicht ein, anders als
unter ihrer Voraussetzung zu denken. Sie sind unwandelbar von Anfang an vorhanden1). Dahin gehört
z. B. die allen andern altchristlichen Kunstkreisen gegenüber sehr auffallende Tatsache, daß der
Bau durch mehrere, ja bisweilen viele Stufen über den Erdboden emporgehoben sein muß; dazu
gehört das Gußmauerwerk, ferner die einheitliche Anwendung des Gewölbes u. a. m. Es fragt sich,
ob zu diesen Grundzügen nicht auch, wie ich das in der Anordnung des Typenkataloges vorweg
genommen habe, die Kuppel über dem Quadrat zu zählen ist. Wie mag das Nebeneinander von
reinen Strahlenformen mit reinen Längsbauten zu verstehen sein? Sind sie beide bodenständig,
kommen sie beide von auswärts, laufen sie deshalb eine Zeitlang ohne Berührung nebeneinander
her und vereinigen sie sich erst, als künstlerisch oder kirchlich das Verlangen nach einer solchen
Vereinigung entsteht? Ähnliche Beobachtungen und Fragen auf dem Gebiete der Bauausstattung:
Der vom Mittelmeer Herkommende beobachtet da ganz fremdartige Züge wie das schräge
Kranzgesims mit Bandgeflechten neben einer Art Bogenleiste und an den Wänden die Dreieck-
schlitze neben den Blendbogenreihen. Diese Zieraten haben nichts zu tun mit den gewohnten
antiken Baugliedern, von denen übrigens eingestreut auch in Armenien manches auftaucht. Sind
also die neuen Züge der Bauausstattung, die im Mittelalter so reichlich auch im Abendlande bekannt
wurden, in Armenien aufgekommen? Oder wo sonst? Und wie kommen sie dann nach Armenien?
i. Das Bauen an sich.
Von den beiden Strömen, die Armenien gegenüber als die ursprünglich gebenden in Betracht
kommen, behandle ich zunächst jenen, der schon durch die jahrhundertelange Verbindung des
Landes mit den parthischen Arsakiden als Herrscherhaus in den Vordergrund treten mußte, soweit
es sich um den Königshof als Träger von Formen der bildenden Kunst handelt. Ich trenne dabei
das Bauen an sich und die Ausstattung, und werde einen wesentlichen Unterschied in der Behandlung
machen, insofern, als ich die iranische Überlieferung zunächst nur kurz nach den Hauptkennzeichen
vorführe, auf die hellenistische dagegen sofort im vollen Umfange eingehe. Die Erklärung ist sehr
einfach. Was vom nordöstlichen Iran übernommen ist, wird zum Ausgangspunkte der Entwicklung
der armenischen Form; ich werde darauf also erst in dem Abschnitte über die Form näher einzu-
gehen haben. Dagegen ist das Hellenistische ein Fremdkörper, der nach Jahrhunderten des Kampfes
von der nationalen Bewegung wieder ausgeschieden wird und dann nicht wieder als einheitliche
Schicht zur Geltung kommt; höchstens daß man wie in Ani, angeregt durch antike, am Orte vor-
handene Reste, einzelne Teile wie Türstürze u. a. im antiken Sinne ausstattet.
Ich gehe im vorliegenden Abschnitte nur Gestaltfragen, d. h. im Rahmen der Erscheinung dem
nach, was in Armenien nicht erst in christlicher Zeit entstanden, sondern von einer älteren Kunst,
einer einheimischen oder auswärtigen übernommen ist. Erst im folgenden Abschnitte wird dann die
Erscheinung in ihrer selbständigen Fortentwicklung, der »Form®, zu behandeln sein. Man erwarte
h Im Wesen der »Gestalt« liegt also von meinem Fachstandpunkt aus das, was Lindner, Geschichtsphilosophie, S. I f. »Be-
harrung« nennt. S. II »Historisch Denken heißt nichts anderes, als die Beharrung verstehen. Alsdann wird auch der ununter-
brochene Zusammenhang menschlicher Dinge deutlicher vor Augen treten.« Vgl. über den Begiiff »Gestalt« oben S. 206.
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III. Gestalt.
Gewisse Züge der altarmenischen Kirchenbauten kehren sowohl im Bauen an sich wie in der
Austattung so selbstverständlich wieder, daß man annehmen möchte, sie seien dieser Kunstströmung
von vornherein in die Wiege gelegt. Dem armenischen Baumeister fällt gar nicht ein, anders als
unter ihrer Voraussetzung zu denken. Sie sind unwandelbar von Anfang an vorhanden1). Dahin gehört
z. B. die allen andern altchristlichen Kunstkreisen gegenüber sehr auffallende Tatsache, daß der
Bau durch mehrere, ja bisweilen viele Stufen über den Erdboden emporgehoben sein muß; dazu
gehört das Gußmauerwerk, ferner die einheitliche Anwendung des Gewölbes u. a. m. Es fragt sich,
ob zu diesen Grundzügen nicht auch, wie ich das in der Anordnung des Typenkataloges vorweg
genommen habe, die Kuppel über dem Quadrat zu zählen ist. Wie mag das Nebeneinander von
reinen Strahlenformen mit reinen Längsbauten zu verstehen sein? Sind sie beide bodenständig,
kommen sie beide von auswärts, laufen sie deshalb eine Zeitlang ohne Berührung nebeneinander
her und vereinigen sie sich erst, als künstlerisch oder kirchlich das Verlangen nach einer solchen
Vereinigung entsteht? Ähnliche Beobachtungen und Fragen auf dem Gebiete der Bauausstattung:
Der vom Mittelmeer Herkommende beobachtet da ganz fremdartige Züge wie das schräge
Kranzgesims mit Bandgeflechten neben einer Art Bogenleiste und an den Wänden die Dreieck-
schlitze neben den Blendbogenreihen. Diese Zieraten haben nichts zu tun mit den gewohnten
antiken Baugliedern, von denen übrigens eingestreut auch in Armenien manches auftaucht. Sind
also die neuen Züge der Bauausstattung, die im Mittelalter so reichlich auch im Abendlande bekannt
wurden, in Armenien aufgekommen? Oder wo sonst? Und wie kommen sie dann nach Armenien?
i. Das Bauen an sich.
Von den beiden Strömen, die Armenien gegenüber als die ursprünglich gebenden in Betracht
kommen, behandle ich zunächst jenen, der schon durch die jahrhundertelange Verbindung des
Landes mit den parthischen Arsakiden als Herrscherhaus in den Vordergrund treten mußte, soweit
es sich um den Königshof als Träger von Formen der bildenden Kunst handelt. Ich trenne dabei
das Bauen an sich und die Ausstattung, und werde einen wesentlichen Unterschied in der Behandlung
machen, insofern, als ich die iranische Überlieferung zunächst nur kurz nach den Hauptkennzeichen
vorführe, auf die hellenistische dagegen sofort im vollen Umfange eingehe. Die Erklärung ist sehr
einfach. Was vom nordöstlichen Iran übernommen ist, wird zum Ausgangspunkte der Entwicklung
der armenischen Form; ich werde darauf also erst in dem Abschnitte über die Form näher einzu-
gehen haben. Dagegen ist das Hellenistische ein Fremdkörper, der nach Jahrhunderten des Kampfes
von der nationalen Bewegung wieder ausgeschieden wird und dann nicht wieder als einheitliche
Schicht zur Geltung kommt; höchstens daß man wie in Ani, angeregt durch antike, am Orte vor-
handene Reste, einzelne Teile wie Türstürze u. a. im antiken Sinne ausstattet.
Ich gehe im vorliegenden Abschnitte nur Gestaltfragen, d. h. im Rahmen der Erscheinung dem
nach, was in Armenien nicht erst in christlicher Zeit entstanden, sondern von einer älteren Kunst,
einer einheimischen oder auswärtigen übernommen ist. Erst im folgenden Abschnitte wird dann die
Erscheinung in ihrer selbständigen Fortentwicklung, der »Form®, zu behandeln sein. Man erwarte
h Im Wesen der »Gestalt« liegt also von meinem Fachstandpunkt aus das, was Lindner, Geschichtsphilosophie, S. I f. »Be-
harrung« nennt. S. II »Historisch Denken heißt nichts anderes, als die Beharrung verstehen. Alsdann wird auch der ununter-
brochene Zusammenhang menschlicher Dinge deutlicher vor Augen treten.« Vgl. über den Begiiff »Gestalt« oben S. 206.