Künstliche Psychiatrie
Mit einem Kunstbelag
Herr Minden. Herr Martin Minden. Wer
ist Herr Martin Minden? Herr Martin Min-
den ist der Nachfolger des Herrn Paul
Westheim in Reclams Universum. Nach-
dem Herr Westheim Chagall 1912 als idi-
otischen Kitscher entlarvt hat, hleibt es
Herrn Minden 1920 vergönnt, Chagall zum
kitschigen Idioten zu machen. Herr Minden
ist nämlich a. Künstler und b. Psychiater.
Schreibt er. Er ist also ohne Zweifel be-
rufen, die SchritU
leitung der neuen
expr^cmrtis-
tischenZtmschrih
zu übernehmen,
die wahrschein-
lich demnächst
im Verlag
S. Fischer als
Konkurrenz-
unternehmen
gegen das Pots-
damer Kunstblatt
des Herrn West-
heim erscheinen
wird. Berlin muss
doch endlich
auch einmal eine
expressionis-
tische Zeitschrift
haben. Herr
Minden Martin
äussert sich zu-
nächst begeistert
über Goethe, Ihr wisst doch, Goethe, und dann
über die breiten Schichten unseres Volkes:
„Sie sehen in den neuen Richtungen der
Kunst nichts weiter als Wirrwarr ohne
jeden Gefühlswert und bezeichnen sie da-
her hinsichtlich des Vorstellungsinhalts als
Unsinn. Die vernünftige Auseinandersetzung
mit der Umgebung hat nun freilich be-
stimmte Voraussetzungen." Diese vernünf-
tige Auseinandersetzung „hinsichtlich" des
Wirrwarrs führt Herrn Künstler Minden
zur Psychiatrie. Das ist durchaus logisch.
Die Psychiatrie gibt nämlich Vorstellungs-
inhalte, während der Wirrwarr des Herrn
Minden trotz Goethen Unsinn ist. Herr
Minden fühlt sich nur in dem Universum
zu Hause, das bei Reclam erscheint. Im
Übrigen scheint Herrn Minden ein Gedanke
aus der Psychiatrie erwägungswert: „Es ist
eine unumstössliche Tatsache, dass alle
Geisteskrankheiten nicht etwa neue Merk-
male des Geisteslebens enthalten, sondern
nur Steigerungen und Schädigungen normal
vorhandener Anlagen darstellen. Mit an-
deren Worten: Es gibt keine scharfe Grenze
zwischen gesund und krank. Die Übergänge
sind fliessend". Dieser Gedanke ist wirklich
erwägenswert. Herr Minden ist zweifellos
kein Übergang, er ist krank. Und zwar
scheint mir ein Fall von dementia praecox
(nach Morgen-
thaler) vorzulie-
gen. Herr Minden
selbst zitiert Mor-
genthaler: „Da-
bei bemerkte der
Kranke zu ver-
schiedenenMalen
spontan, es kom-
me ihm selber
seltsam vor, wie
die Übergänge
von einer Gestalt
nicht etwa ver-
schwommen ne"
belhaft vor sich
gehen, sondern
er auch während
des Überganges
die Gestalten
ganz deutlich
sehe". Herr Min-
den sieht zum
Beispiel in dem
Bild von Marc Chagall: „Ich und das Dorf"
ganz deutlich „einen Menschenkopf, einen
Tierkopf, eine Strasse, einen laufenden
Menschen, Blätter, das Endglied eines Fin-
gers, Häuser, die zum Teil verkehrt stehen
u. s. w ", zu gleicher Zeit sieht er das Bild
verschwommen, was er bei Chagall Kata-
tonie nennt. Der Fall Minden scheint mir
psychiatrisch aber besonders bemerkenswert,
da er auf dem Bild von Chagall nur einen
Finger deutlich sieht, während das Bild deut-
lich vier Finger enthält. Morgenthaler wird
sich auf Grund dieses fliessenden Falles
noch einmal genauer mit der dementia
praecox befassen müssen. Als Material würde
ich ihm noch eine Zeichnung aus demsel-
ben Heft von Reclams Universum emp-
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Mit einem Kunstbelag
Herr Minden. Herr Martin Minden. Wer
ist Herr Martin Minden? Herr Martin Min-
den ist der Nachfolger des Herrn Paul
Westheim in Reclams Universum. Nach-
dem Herr Westheim Chagall 1912 als idi-
otischen Kitscher entlarvt hat, hleibt es
Herrn Minden 1920 vergönnt, Chagall zum
kitschigen Idioten zu machen. Herr Minden
ist nämlich a. Künstler und b. Psychiater.
Schreibt er. Er ist also ohne Zweifel be-
rufen, die SchritU
leitung der neuen
expr^cmrtis-
tischenZtmschrih
zu übernehmen,
die wahrschein-
lich demnächst
im Verlag
S. Fischer als
Konkurrenz-
unternehmen
gegen das Pots-
damer Kunstblatt
des Herrn West-
heim erscheinen
wird. Berlin muss
doch endlich
auch einmal eine
expressionis-
tische Zeitschrift
haben. Herr
Minden Martin
äussert sich zu-
nächst begeistert
über Goethe, Ihr wisst doch, Goethe, und dann
über die breiten Schichten unseres Volkes:
„Sie sehen in den neuen Richtungen der
Kunst nichts weiter als Wirrwarr ohne
jeden Gefühlswert und bezeichnen sie da-
her hinsichtlich des Vorstellungsinhalts als
Unsinn. Die vernünftige Auseinandersetzung
mit der Umgebung hat nun freilich be-
stimmte Voraussetzungen." Diese vernünf-
tige Auseinandersetzung „hinsichtlich" des
Wirrwarrs führt Herrn Künstler Minden
zur Psychiatrie. Das ist durchaus logisch.
Die Psychiatrie gibt nämlich Vorstellungs-
inhalte, während der Wirrwarr des Herrn
Minden trotz Goethen Unsinn ist. Herr
Minden fühlt sich nur in dem Universum
zu Hause, das bei Reclam erscheint. Im
Übrigen scheint Herrn Minden ein Gedanke
aus der Psychiatrie erwägungswert: „Es ist
eine unumstössliche Tatsache, dass alle
Geisteskrankheiten nicht etwa neue Merk-
male des Geisteslebens enthalten, sondern
nur Steigerungen und Schädigungen normal
vorhandener Anlagen darstellen. Mit an-
deren Worten: Es gibt keine scharfe Grenze
zwischen gesund und krank. Die Übergänge
sind fliessend". Dieser Gedanke ist wirklich
erwägenswert. Herr Minden ist zweifellos
kein Übergang, er ist krank. Und zwar
scheint mir ein Fall von dementia praecox
(nach Morgen-
thaler) vorzulie-
gen. Herr Minden
selbst zitiert Mor-
genthaler: „Da-
bei bemerkte der
Kranke zu ver-
schiedenenMalen
spontan, es kom-
me ihm selber
seltsam vor, wie
die Übergänge
von einer Gestalt
nicht etwa ver-
schwommen ne"
belhaft vor sich
gehen, sondern
er auch während
des Überganges
die Gestalten
ganz deutlich
sehe". Herr Min-
den sieht zum
Beispiel in dem
Bild von Marc Chagall: „Ich und das Dorf"
ganz deutlich „einen Menschenkopf, einen
Tierkopf, eine Strasse, einen laufenden
Menschen, Blätter, das Endglied eines Fin-
gers, Häuser, die zum Teil verkehrt stehen
u. s. w ", zu gleicher Zeit sieht er das Bild
verschwommen, was er bei Chagall Kata-
tonie nennt. Der Fall Minden scheint mir
psychiatrisch aber besonders bemerkenswert,
da er auf dem Bild von Chagall nur einen
Finger deutlich sieht, während das Bild deut-
lich vier Finger enthält. Morgenthaler wird
sich auf Grund dieses fliessenden Falles
noch einmal genauer mit der dementia
praecox befassen müssen. Als Material würde
ich ihm noch eine Zeichnung aus demsel-
ben Heft von Reclams Universum emp-
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