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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 11.1920

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Siebentes und achtes Heft
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Walden, Herwarth: Kritik der vorexpressionistischen Dichtung
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https://doi.org/10.11588/diglit.37133#0102

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Kritik der vorexpressionis^
tischen Dichtung
Herwarth Waiden
I
Kunst offenbart sich durch die Gestaltung
des Materials. Man muss also Material und
Gestaltung untersuchen, um festzustellen,
ob ein Werk Kunst ist oder nicht. Die
Kritiker gehen ausnahmslos von einer
künstlerischen Auffassung aus, nämlich von
ihrer eignen. Sie verwechseln also die
Wirkung einer abstrakten Erscheinung auf
sie mit der Ursache der Kunst. Diese künst-
lerische Auffassung entspricht der allgemeinen
menschlichen Auffassung der letzvergangenen
Jahrhunderte von dem Wert der Persön-
lichkeit. Die Persönlichkeit hat angeblich
alles getan und soll angeblich alles tun.
Abgesehen von den grossen Persönlichkeiten,
um die sich die Anhänger gruppieren, fühlt
sich auch jeder Anhänger als Persönlich-
keit, was nach Goethe das höchste Glück
auf Erden ist. Das Wort Persönlichkeit
entschuldigt und erklärt alles. Der Kauf-
mann, der mehr Geld verdient als andere,
ist eine Persönlichkeit. Die Frau, die mehr
Liebhaber hat als andere, ist eine Persön-
lichkeit. Jeder Mensch, der sich mit den
schönen Künsten befasst, ist ein Künstler,
also eine Persönlichkeit. Es gibt keinen
einzigen Menschen, der sich nicht irgendwo
überlegen fühlt. Und zwar vor allem in
dem, wodurch er sich Vorteile schafft und
Einzelne oder die Gesamtheit schädigt.
Persönlichkeit ist weiter nichts als ein
Selbstbetrug oder ein Selbstbetrogensein.
Jede Persönlichkeit strebt nach Freiheit.
Aus der Richtung dieses Strebens ergibt
sich das Wertlose dieser Persönlichkeit#
Denn das Entscheidende für das Dasein
der Menschen und der Menschheit ist die
Fähigkeit der Einschaltung der Hemmungen
von sich aus. Die einzige objektive Freiheit,
die es gibt, ist die Triebhemmung. Diese
Fähigkeit nennt man Ethik. Ohne diese
Fähigkeit kann kein Mensch und keine
Menschheit existieren. Es ist unfrei, sich
gehen zu lassen. Es ist unfrei, sich aus-
zuleben. Es ist unfrei, seine Vorstellungen
niederzuschreiben oder niederzumalen. Die
Fähigkeit der Einschaltung der Hemmungen
in die Vorstellungswelt, die Phantasie,

nennt man ihre Gestaltung. Und nur aus
der Gestaltung der Vorstellungen entsteht
ein Kunstwerk. Der ethische Mensch
braucht nicht Künstler zu sein. Aber es
hat nie einen wirklichen Künstler gegeben,
der nicht ethisch empfindet. Der Begriff
der Freiheit ist weiter nichts als ein Deck-
wort zur Befriedigung selbstsüchtiger Ge-
lüste. Den besten Beweis für das Ende
der Begriffe Freiheit und Persönlichkeit
und für das Entstehen einer ethischen
Lebensordnung bildet die immer grösser
werdende Erkenntnis der einzig möglichen
menschlichen Gesellschaftsformen des So-
zialismus und des Kommunismus. Formen,
die bereits wirkliche Triebmenschen in den
ältesten Zeiten der Menschheitsgeschichte als
lebensnotwendig erkannten und nach denen
sie sich ordneten. Und so schwer es für die
heutige verbürgerlichte Menschheit ist, den
Traum von der Freiheit des Mannes in
dem unbeschränkten Besitz von Geldmitteln
und den Traum von der Freiheit der Frau
in dem unbeschränkten Besitz von Lieb-
habern fallen zu lassen, so schwer ist es
für die verbürgerlichte Künstlerschaft, den
Glauben an die Freiheit der Kunst und
an die Ueberwindung ethischen Verhaltens
aufzugeben. Nur die sogenannte Masse hat
triebrichtig erkannt, dass es keine Vorrechte
für geistige Arbeiter gibt, wie sich Künstler
jetzt gern nennen. Vorrechte müssen vor
allen Dingen abgeschafft werden. Es gibt
nur ein Recht, nämlich das Recht auf Pflicht.
Und diese Pflicht, das heisst die selbst-
ständige und selbstwillige Einordnung, for-
dert vor allem die Kunst.
II
Die Persönlichkeit fällt. Lebt der grosse
Name noch. Was ist ein grosser Name.
Erinnerung von Menschen an Erinnerungen.
Die Gefahr dieser Erinnerungen ist die
kritiklose Uebernahme fremder Erlebnisse.
Jedes Erlebnis ist eine Erinnerung. Aber
keine Erinnerung ist ein Erlebnis. Was
ist uns Hekuba. Aber was ist uns Goethe.
Es ist bekannt, dass Goethe der berühmteste
Dichter des letzten Jahrhunderts gewesen
ist. Durch die ausgiebige Verbreitung
solcher Behauptungen ergibt sich der Ruhm,
aus dem Ruhm die Berühmtheit, aus der
Berühmtheit die Ehrfurcht und aus der
Ehrfurcht die Erkenntnislosigkeif. Nun

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