immer nicht zu merken scheint, dass der
Kubismus nicht nur ein Problem, sondern
das Problem der gesamten Kunst ist. Und
eine Sackgasse war der Kubismus so recht
eigentlich nur für die Kritiker. Dass Sie,
Herr Westheim, aus dieser Sackgasse sich
durch eine Art Zauberkunststück herausge-
rettet haben, wem wäre das nicht bekannt?
Da aber Herr Osborn noch drin steckt und
ich Sie heute durchaus nicht ungetröstet
will fahren lassen, so bleibt uns nur übrig,
unsere Bussübungen fortzusetzen, bis wir
gefunden haben, was Ihnen das Herz er-
leichtern kann. Es wird Sie freuen, noch-
mals zu hören, wie ganz und gar Herr Os-
born über Kandinsky genau so urteilte wie
Sie und Herr Küchler.
„Ein Irrweg, der ins Bodenlose abstürzt . . .
Kandinsky, der so tief in seine wirren
Spekulationen hineingerutscht ist, dass er
anscheinend nicht mehr herausfindet. . . .
Kandinsky scheint mir immer rettungsloser
im Spintisieren zu versinken."
Diese Sätze bestehen zwar nur aus journa-
listischen Floskeln, aber, nicht wahr, Herr
Westheim, über Ihren Sinn sind wir uns
einig? Kandinskys Bilder sind keine Kunst-
werke, sondern Systeme, und zwar wertlose,
untaugliche Systeme. Es mag Ihnen ent-
gangen sein, dass Herr Osborn sich in den
letzten Jahren gelegentlich über Kandinsky
etwas weniger respektlos geäussert hat. Da
dies aber nur dann geschah, wenn diese
Bilder nicht im Sturm zu sehen waren, so
dürfen Sie es für voreilig halten, auf eine
vollkommene Sinnesänderung bei Herrn Os-
born zu schliessen. Denn es lässt sich be-
greifen, mit welcher Gewalt Kandinskys
Bilder in der neuen Umgebung auf ihn ge-
wirkt haben. Auch legt man ja, wie Sie
ganz besonders gut wissen, an andere Aus-
stellungen keinen so strengen Masstab wie
an die Ausstellungen des Sturm. Aber
welches auch die Gründe sein mögen, so-
viel steht fest: Herr Osborn ist nie so un-
vorsichtig gewesen wie Sie. Er vollzieht
die Uebergänge von seinem früheren Ab-
lehnungs-Doktrinarismus zur Anerkennung
allmählig, sozusagen unauffällig. Er ver-
schnappt sich nur selten. Und darum lassen
Sie uns noch rasch nachsehen, wie er vor
Jahren über die italienischen Futuristen ge-
urteilt hat.
„Ganz schlimm sind die Italiener, die den
Futurismus erfunden haben. Das ist auf-
geplusterte Geistigkeit bis zum Kitsch, vor
der man ruhig lachen kann. Ich rede nicht
von den albernen Titeln, das könnte hin-
gehen. Aber sie treiben Absichtlichkeiten,
die verstimmen. Auch Severini, der Talent-
vollste des Kreises, ist diesmal unmöglich."
Nun, das war das Unglücksjahr 1913. Am
4. August 1920 schrieb der Buchverlag Ull-
stein & Co. an den Sturm:
„In unserem Verlag ist eine Kunstgeschichte
von Dr. Max Osborn erschienen, von der wir
augenblicklich eine neue Auflage vorbereiten.
Herr Dr. Osborn hat für diese Neuausgabe
ein Kapitel über die Kunst der
letzten beiden Jahrzehnte hinzu-
gefügt . . . möchten uns daher die Anfrage
erlauben, ob Sie bereit wären, uns Photo-
graphien von einigen Bildern . . . zur Ver-
fügung zu stellen. Es handelt sich um die
folgenden Gemälde:
„Severini, Modistin
Boccioni, Macht der Strasse
Carra, Die rüttelnde Droschke
Bussolo, Zug in voller Fahrt."
Ausserdem wurden verlangt Photographien
zu Bildern von Werefkin, Chagall und
Heemskerck.
Wie schmeckt Ihnen das, Herr Westheim?
Beproduziert man in Kunstgeschichten Bilder
von Werken, die nichts sindalsaufgeplusterte
Geistigkeit? Wollte Herr Osborn den Lesern
Bilder zeigen, über die man ruhig lachen
kann? Oder sind etwa die früheren Urteile
über die Futuristen dem Gedächtnis des
Herrn Osborn entschwunden? Ich möchte
die Entscheidung dieser Fragen Ihnen, Herr
Westheim, überlassen. So sehr schwer wird
sie Ihnen nicht fallen. Denn ich hoffe, Sie
sind ein fleissiger Leser von Aufsätzen über
Expressionismus. Gerade im richtigen
Augenblick, am 8. November 1920 schrieb
nämlich Herr Osborn in der Vossischen
Zeitung über „ Die Lage des Expressionismus."
Und Sie wissen doch auch, wie er dazu ge-
kommen ist? Es ist sehr amüsant und im-
stande, den Fluss meiner Ausführungen eine
Weile aufzuhalten. Herr Kasimir Edschmid
tobt gegen den Expressionismus. Oder soll
es tun. Oder getan haben. Darüber
herrscht Jubel im ganzen Verlag Mosse.
Der verfluchte Expressionismus stirbt, ver-
reckt, ist aus. Ist gänzlich aus. Kasimir
Edschmid hat ihn abgeschworen. Nur sein
i SH
Kubismus nicht nur ein Problem, sondern
das Problem der gesamten Kunst ist. Und
eine Sackgasse war der Kubismus so recht
eigentlich nur für die Kritiker. Dass Sie,
Herr Westheim, aus dieser Sackgasse sich
durch eine Art Zauberkunststück herausge-
rettet haben, wem wäre das nicht bekannt?
Da aber Herr Osborn noch drin steckt und
ich Sie heute durchaus nicht ungetröstet
will fahren lassen, so bleibt uns nur übrig,
unsere Bussübungen fortzusetzen, bis wir
gefunden haben, was Ihnen das Herz er-
leichtern kann. Es wird Sie freuen, noch-
mals zu hören, wie ganz und gar Herr Os-
born über Kandinsky genau so urteilte wie
Sie und Herr Küchler.
„Ein Irrweg, der ins Bodenlose abstürzt . . .
Kandinsky, der so tief in seine wirren
Spekulationen hineingerutscht ist, dass er
anscheinend nicht mehr herausfindet. . . .
Kandinsky scheint mir immer rettungsloser
im Spintisieren zu versinken."
Diese Sätze bestehen zwar nur aus journa-
listischen Floskeln, aber, nicht wahr, Herr
Westheim, über Ihren Sinn sind wir uns
einig? Kandinskys Bilder sind keine Kunst-
werke, sondern Systeme, und zwar wertlose,
untaugliche Systeme. Es mag Ihnen ent-
gangen sein, dass Herr Osborn sich in den
letzten Jahren gelegentlich über Kandinsky
etwas weniger respektlos geäussert hat. Da
dies aber nur dann geschah, wenn diese
Bilder nicht im Sturm zu sehen waren, so
dürfen Sie es für voreilig halten, auf eine
vollkommene Sinnesänderung bei Herrn Os-
born zu schliessen. Denn es lässt sich be-
greifen, mit welcher Gewalt Kandinskys
Bilder in der neuen Umgebung auf ihn ge-
wirkt haben. Auch legt man ja, wie Sie
ganz besonders gut wissen, an andere Aus-
stellungen keinen so strengen Masstab wie
an die Ausstellungen des Sturm. Aber
welches auch die Gründe sein mögen, so-
viel steht fest: Herr Osborn ist nie so un-
vorsichtig gewesen wie Sie. Er vollzieht
die Uebergänge von seinem früheren Ab-
lehnungs-Doktrinarismus zur Anerkennung
allmählig, sozusagen unauffällig. Er ver-
schnappt sich nur selten. Und darum lassen
Sie uns noch rasch nachsehen, wie er vor
Jahren über die italienischen Futuristen ge-
urteilt hat.
„Ganz schlimm sind die Italiener, die den
Futurismus erfunden haben. Das ist auf-
geplusterte Geistigkeit bis zum Kitsch, vor
der man ruhig lachen kann. Ich rede nicht
von den albernen Titeln, das könnte hin-
gehen. Aber sie treiben Absichtlichkeiten,
die verstimmen. Auch Severini, der Talent-
vollste des Kreises, ist diesmal unmöglich."
Nun, das war das Unglücksjahr 1913. Am
4. August 1920 schrieb der Buchverlag Ull-
stein & Co. an den Sturm:
„In unserem Verlag ist eine Kunstgeschichte
von Dr. Max Osborn erschienen, von der wir
augenblicklich eine neue Auflage vorbereiten.
Herr Dr. Osborn hat für diese Neuausgabe
ein Kapitel über die Kunst der
letzten beiden Jahrzehnte hinzu-
gefügt . . . möchten uns daher die Anfrage
erlauben, ob Sie bereit wären, uns Photo-
graphien von einigen Bildern . . . zur Ver-
fügung zu stellen. Es handelt sich um die
folgenden Gemälde:
„Severini, Modistin
Boccioni, Macht der Strasse
Carra, Die rüttelnde Droschke
Bussolo, Zug in voller Fahrt."
Ausserdem wurden verlangt Photographien
zu Bildern von Werefkin, Chagall und
Heemskerck.
Wie schmeckt Ihnen das, Herr Westheim?
Beproduziert man in Kunstgeschichten Bilder
von Werken, die nichts sindalsaufgeplusterte
Geistigkeit? Wollte Herr Osborn den Lesern
Bilder zeigen, über die man ruhig lachen
kann? Oder sind etwa die früheren Urteile
über die Futuristen dem Gedächtnis des
Herrn Osborn entschwunden? Ich möchte
die Entscheidung dieser Fragen Ihnen, Herr
Westheim, überlassen. So sehr schwer wird
sie Ihnen nicht fallen. Denn ich hoffe, Sie
sind ein fleissiger Leser von Aufsätzen über
Expressionismus. Gerade im richtigen
Augenblick, am 8. November 1920 schrieb
nämlich Herr Osborn in der Vossischen
Zeitung über „ Die Lage des Expressionismus."
Und Sie wissen doch auch, wie er dazu ge-
kommen ist? Es ist sehr amüsant und im-
stande, den Fluss meiner Ausführungen eine
Weile aufzuhalten. Herr Kasimir Edschmid
tobt gegen den Expressionismus. Oder soll
es tun. Oder getan haben. Darüber
herrscht Jubel im ganzen Verlag Mosse.
Der verfluchte Expressionismus stirbt, ver-
reckt, ist aus. Ist gänzlich aus. Kasimir
Edschmid hat ihn abgeschworen. Nur sein
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