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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 11.1920

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Elftes und zwölftes Heft
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Blümner, Rudolf: Briefe an Paul Westheim, [3]
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https://doi.org/10.11588/diglit.37133#0163

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Judentum will er, um im Bilde zu bleiben,
ums Verrecken nicht abschwören. „Etsch",
grinst einer, der im Berliner Tageblatt
Entrefilets anfertigt, „reingefallen, Edschmidt
ist gar kein Jude." Und ich sage: „Etsch,
reingefallen, Edschmid ist gar kein Ex-
pressionist. Und was noch wichtiger ist,
er ist nie einer gewesen." Herr Karl Strecker,
der in der Täglichen Rundschau gegen Kunst
schreibt, hat nie in seinem Leben ein ex-
pressionistisches Gedicht gelesen. Das kann
ich getrost auf meinen Eid nehmen. Vor
etwa zwei Jahren schrieb er in der Täg-
lichen Rundschau einige Aufsätze über die
^neuere Dichtung. Sie wissen doch, Herr
Westheim, was neuere Dichtung ist: Hasen-
clever, Werfel, Georg Kaiser und Kasimir
Edschmid. Herr Strecker, der nie in seinem
Leben ein expressionistisches Gedicht ge-
lesen hatte und sich über diese höchst
sonderbare Richtung instruieren wollte, fand
die Dichtungen der Genannten so gut oder
so schlecht wie die Dichtungen aus früheren
Zeiten. Und er fragte erstaunt, worin denn
eigentlich das expressionistische in allen
diesen Dichtungen bestehen solle. Er könne
es nicht linden. Pardon, meine Herren,
ich habe es nicht behauptet, dass die Herren
Hasenclever, Werfel, Kaiser und Edschmid
und die ganze Gesellschaft von Epigonen
Expressionisten seien. Aber wer hat es denn
behauptet? Wer hat dieses Märchen erfunden?
Das weiss niemand. Und wie ist es zu er-
klären, dass ein solches Märchen entstehen
konnte, Herr Edschmid sei ein Expressionist?
Meine Herren, meine lieben guten ahnungs-
losen Herren, was haben Sie doch für
drollige Vorstellungen vom Expressionismus.
Ei, ei, ich habe Sie in einem sehr schlimmen
Verdacht, dass Sie auch heute noch ganz
und gar nicht wissen, was Expressionismus
ist. Denn wenn Herr Alfred Kerr glaubt,
Richard 111. habe im Schauspielhaus gewirkt
wie ein expressionistisches Märchen, dann
ist die allgemeine Ahnungslosigkeit ruchbar
geworden. Und ich werde noch viele Ge-
legenheiten haben, sie gründlich zu be-
weisen. Lesen Sie nur lleissig mit, Herr
Westheim, was ich hier schreibe, dann
lernen :e das Schwerste spielend.
Lesen ! hssig mit, denn ich fürchte,
dass S len Faden verloren haben.
Da, lar ln wieder auf: Kasimir Ed-
schmid ein Expressionist gewesen.

Was also schwört er ab? Was er nie war
und was er selbst nie begriffen hat. Ein
leichter Schwur. Und darum Jubel im
ganzen Verlag Mosse. Der Expressionismus
ist tot, ist elendiglich verreckt. Und Fritz
Stahl, der nach meiner Berechnunghöchstens
zweiundfünfzig Jahre alt ist, schreibt im
Berliner Tageblatt vom 7. November 1920
einen Artikel über „-pressionismen", einen
Artikel, einen Artikel, haben Sie ihn gelesen,
Herr Westheim? Ja? Gut, dann brauche ich
kein Wort darüber zu sagen. Und Herr
Max Osborn hat ihn auch gelesen. Aber
das ging ihm denn doch sozusagen über
die Hutschnur. Da gab es für ihn kein
Halten mehr. Der Expressionismus soll aus
sein? „Gemach! soweit sind wir noch nicht",
schreibt Herr Osborn in der Vossischen
Zeitung und zerbricht ein paar handfeste
Lanzen für den Expressionismus. Haut und
sticht so um sich, dass ihm etwas Mensch-
liches passiert:
„Picasso und Kandinsky, auch die ersten
Futuristen, hatten sich aus innerer Not
neue, unerhörte Systeme erdacht, ihre ma-
lerischen Gesichte zu beschwören."
Nicht wahr, Herr Westheim, tout comme
chez vous! Picasso, Kandinsky und die ersten
Futuristen. Will man Kubisten sagen, ge-
braucht man den Sammelnamen Picasso.
Er war zwar nie überzeugter Kubist. Das
beweist auch sein gegenwärtiger Schwäche-
zustand. Aberich verlange von Kunstkritikern
nicht, dass sie die Kunstgeschichte der
letztenbeidenJahrzehnte kennen.
Und Kandinsky, der rettungslos ins Spinti-
sieren Versunkene? Er wird der grosseZeuge
des echten Expressionismus. Er, ja er hatte
noch Visionen! Aber die Mitläufer tänzeln
nur und wollen nichts von künstlerischer
Zucht wissen. Ganz meine Ansicht. Nur
dass Herr Osborn stets die Originale für
die Mitläufer und die Mitläufer für die
Originale hält. Und wenn er in einem An-
fall fürchterlicher Vergesslichkeit die ersten
Futuristen preist, vor denen er einst so
ruhig gelacht hat, so muss ich ihn vor
allem fragen: Wer sind wohl die zweiten
oder die späteren Futuristen gewesen? Im
Sturm kann er sie nicht gesehen haben.
Vielleicht denkt er dabei an die Bilder des
Herrn George Grosz. Da kann er alles
finden, was sich in den letzten zehn Jahren
in der Kunst der Malerei und Zeichnung
 
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