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„Was kümmert dich das?" sagte der Derwisch. „Ist das deine Sache?" „Allein
wohlehrwürdiger Vater," Hub Kandide an, „es gibt gräßliches Elend ans Erden." „Ob
Elend oder Glück, gleichviel!" antwortete der Derwisch. „Wenn Ihre Kaiserliche Maje-
stät ein Schiff nach Ägypten sendet, kümmert Sie sich wohl darum, ob's den Ratten und
Mäusen im Schiffsboden behaglich ergeht oder nicht?" „Was soll man also machen?"
fragte Panglos. „Schweigen!" erwiderte der Derwisch. Bei diesen Worten wars er
ihnen die Tür vor der Vase zu.
Während dieser Unterredung erscholl das Gerücht, daß zu Konstantinopel zwei Wehre des
Diwans und der Mufti feien erdrosfelt und viele ihrer Freunde angepfählt worden. Wie
Kandide, Panglos und Murtin wieder nach ihrem Vorwerkchen zurückkehrten, fanden
he einen Wackern Greis in einer Pomeranzlaube vor seiner Tür htzen, um der Kühle zu
genießen.
Panglos fragte ihn, wie der eben erdrosselte Mufti hieße. „Das weiß ich nicht," ant-
wortete der ehrliche Alte, „ich hab' mein Lebtag nicht gewußt, wie irgendein Mufti
oder ein Wehr heißt; habe kein Sterbenswort von der ganzen Historie gehört. Ich er-
kundige mich niemals, was in Konstantinopel vorgeht, schicke felbstgepslanzte Gartenfrüchte
hinein, und damit holla!"
„Sie haben wohl großes und prächtiges Landgut," fagte Kandide zum Türken. „Weiter
nichts als zwanzig Hufen," antwortete der Alte. „Die bau' ich mit meinen Kindern an.
Arbeit verscheucht die drei schlimmsten Feinde von uns, die Langeweile, das Laster und
den Mangel."
Kandide behielt diese Rede des Türken und bewahrte he in seinem Herzen. „Ha,"
sagt er zum Panglos und Martin, „dieser gute Greis scheint hch ein Los verschafft zu
haben, das dem Lost der sechs Könige, mit denen wir die Ehre gehabt zu speisen, weit
vorzuziehen ist."
„Auch unser Garten muß angebaut werden," sagte Kandide. „Da haben Sie recht,"
sagte Panglos; „denn wie Gott den Menschen in den Garten setzte, setzte er ihn
deshalb hinein, nt opsraretur eurn, daß er ihn bebaute." „Laßt uns also arbeiten, ohne
alle Vernünsteleien," sagte Martin. „Das ist das einzige Mittel, hch das Leben er-
träglich zu machen."
Dies lobenswürdige Vorhaben unterstützte die kleine Gesellschaft tätig. Das kleine Gütchen
trug viel ein. Kunegunde war grundhäßlich, wußte aber ganz treffliche Pasteten zu backen;
Trudchen stickte und nähte; die Alte besorgte die Wäsche. Sogar Bruder Viola blieb
kein unnützes Rad am Wagen; er wurde ein sehr guter Tischler, ja sogar ein recht-
schaffener Mann.
Und Panglos fagte manchmal zu Kandide: „Jegliche Begebenheit im menschlichen
Leben gehört in die Kette der Dinge. Denn wären Sie nicht Baroneß Kunegundes halber
mit derben Fußtritten aus dem schönsten aller Schlösser gejagt, von der Inquihtion nicht

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