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Weber, Gregor [Hrsg.]
Kulturgeschichte des Hellenismus: von Alexander dem Großen bis Kleopatra — Stuttgart: Klett-Cotta, 2007

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https://doi.org/10.11588/diglit.45206#0282
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romans (eines Produkts der Kaiserzeit, das auf entsprechende hellenistische
Vorlagen zurückgeht).34
Mit solchen Tendenzen erreicht bzw. überschreitet die Historiographie die
Grenze zu einer anderen Literaturform: dem Roman; und bezeichnenderweise
entwickeln sich denn auch im Hellenismus die ersten Anfänge dieses neuen
Genres, das allerdings erst in der Kaiserzeit zur vollen Blüte gelangt: des fiktiona-
len Liebesromans.35 Dieses Genre orientiert sich in seiner frühesten Phase noch
an historischen oder quasi-historischen Sujets, beschreitet dann aber den Weg
zu völlig freier Fiktion. Die Handlung des Liebesromans ist durch die stereotype
Rekurrenz zweier thematischer Grundmomente bestimmt: zum einen durch
die unverbrüchliche Liebe und Treue eines Paares, die allen Wechselfällen des
Schicksals, allen Anfechtungen und Bedrohungen von außen (gerade auch sei-
tens der hohen Politik) unbeirrt standhält und schließlich den Hafen ungetrüb-
ten und dauerhaften Eheglücks erreicht, und zum anderen durch Reisen, Aben-
teuer und Exotik in der ganzen Weite der durch den Alexanderzug geöffneten
Welt. Hier kommt ein Lebensgefühl zum Ausdruck, und hier wird dem Bedürf-
nis eines breiten Lesepublikums Rechnung getragen, wie es ähnlich auch für die
Neue Komödie kennzeichnend ist: die Konzentration auf den privaten Bereich
von Liebe und Ehe; das Gefühl der Unsicherheit in einer als unberechenbar und
gefahrvoll erlebten Welt und der Rückzug in die Wunschwelt privaten Glücks
und unverletzlicher Integrität treuer Liebe. Indem sich die beiden (an sich formal
so verschiedenen) Genres in diesen thematischen und funktionalen Momenten
so eng berühren, kommen in besonders eindringlicher Weise wesentliche Spe-
zifika hellenistischer Mentalität zum Ausdruck. Zugleich wird dabei auch deut-
lich, daß diese Mentalität durch ein Lebensgefühl existenzieller Verunsicherung
und Gefährdung, durch ein Bewußtsein der Unberechenbarkeit schicksalhafter
Wechselfälle offenbar sehr viel stärker und tiefgreifender bestimmt ist als durch
die stoisch geprägte (z. B. bei Arat artikulierte) Vorstellung von einer das Gesche-
hen der Welt sinnhaft lenkenden und sich der Menschen gütig annehmenden
göttlichen Vorsehung. Eine solche Vorstellung erscheint wie ein Wunschtraum,
in den sich eine lebenspessimistische Grundstimmung inmitten bedrängender
und leidvoller Wirklichkeitserfahrung gedanklich flüchtet, wie ein Refugium des
Trostes für einen relativ kleinen Kreis von Intellektuellen. An einen solchen klei-
nen Kreis wendet sich ja auch die artifizielle Lehrdichtung Aratos’; der Roman
hat dagegen die Interessen einer sehr viel breiteren Leserschaft im Auge und
spiegelt und bedient demgemäß deren ganz anderes Lebensgefühl.

DIE LITERATUR ALS SPIEGEL EPOCHALEN WANDELS

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