Geschichtsschreibung, indem er versucht, immer das Schreckenerregende
vor Augen zu führen. Das Unwürdige und Weibische seiner Zielsetzung soll
unerörtert bleiben, aber das der Geschichtsschreibung Eigentümliche und
zugleich ihr Nutzen sollen geprüft werden. Der Geschichtsschreiber soll
die Leser nicht in Erschütterung versetzen, indem er auf das Sensationelle
abzielt, und er soll auch nicht nach den jeweils möglichen Reden suchen und
aufzählen, was den zugrunde liegenden Ereignissen folgen mag (wie die Tra-
gödiendichter), sondern er muß von den Geschehnissen und Reden ganz und
gar wahrheitsgemäß berichten, mögen sie auch ganz unbedeutend sein. Denn
das Ziel von Geschichtsschreibung und Tragödie ist nicht dasselbe, sondern
entgegengesetzt. Dort muß man nämlich die Zuhörer anhand der plausibel-
sten Reden für den Augenblick in Erschütterung versetzen und emotional
erregen, hier muß man die Lernbegierigen anhand der wirklichen Taten und
Reden für alle Zeit belehren und überzeugen, da ja bei jenen das Plausible
bestimmend ist (mag es sich auch um Fiktion handeln) zum Zweck der Täu-
schung der Zuschauer, bei diesen dagegen das Wahrheitsgemäße zum Zweck
des Nutzens der Lernbegierigen.«
In einem anderen Kontext setzt sich Polybios überhaupt von jeglicher auf
Unterhaltung zielender Geschichtsschreibung ab (9,1—2). Diese locke ihre
Leser durch bunte und attraktive Inhalte (Mythen, genealogische Geschichten,
Stammessagen, Erzählungen von Kolonie- und Städtegründungen) und emotio-
nal fesselnde Darstellungsweisen an. Der pragmatischem Historiographie (die
sich allein auf die politisch-militärische Geschichte im engeren Sinne konzen-
triert) gehe es dagegen um Wahrheit und dauernde Relehrung des Lesers, und
so müsse dieser sich hier auf eine eher nüchterne und dröge Lektüre gefaßt
machen. Nicht zuletzt diese Passage läßt deutlich werden, wie schwer es die
seriöse Geschichtsschreibung hat, ihren Platz gegen die zwar seichte, aber
offenbar erfolgreiche Konkurrenz zu behaupten.
Diese Konkurrenz präsentiert sich auch in einer anderen Variante. Sie zielt
darauf ab, das historische Substrat fiktional zu erweitern und mit romanhaften
Elementen anzureichern, vor allem mit Liebesgeschichten: ein Prozeß der Ero-
tisierung und Entpolitisierung des Genres, in dem ein weiteres Mal ein Spe-
zifikum hellenistischen Mentalitätswandels zum Ausdruck kommt. Auch das
Exotische und Wunderbare spielt inhaltlich eine wichtige, das eigentlich Histo-
rische überlagernde Rolle. Dieses Moment kann sich natürlich besonders stark
in Darstellungen des Alexanderzuges niederschlagen und erreicht schließlich
seine extreme Ausprägung in der wild wuchernden Phantastik des Alexander-
282
DIE LITERATUR ALS SPIEGEL EPOCHALEN WANDELS
vor Augen zu führen. Das Unwürdige und Weibische seiner Zielsetzung soll
unerörtert bleiben, aber das der Geschichtsschreibung Eigentümliche und
zugleich ihr Nutzen sollen geprüft werden. Der Geschichtsschreiber soll
die Leser nicht in Erschütterung versetzen, indem er auf das Sensationelle
abzielt, und er soll auch nicht nach den jeweils möglichen Reden suchen und
aufzählen, was den zugrunde liegenden Ereignissen folgen mag (wie die Tra-
gödiendichter), sondern er muß von den Geschehnissen und Reden ganz und
gar wahrheitsgemäß berichten, mögen sie auch ganz unbedeutend sein. Denn
das Ziel von Geschichtsschreibung und Tragödie ist nicht dasselbe, sondern
entgegengesetzt. Dort muß man nämlich die Zuhörer anhand der plausibel-
sten Reden für den Augenblick in Erschütterung versetzen und emotional
erregen, hier muß man die Lernbegierigen anhand der wirklichen Taten und
Reden für alle Zeit belehren und überzeugen, da ja bei jenen das Plausible
bestimmend ist (mag es sich auch um Fiktion handeln) zum Zweck der Täu-
schung der Zuschauer, bei diesen dagegen das Wahrheitsgemäße zum Zweck
des Nutzens der Lernbegierigen.«
In einem anderen Kontext setzt sich Polybios überhaupt von jeglicher auf
Unterhaltung zielender Geschichtsschreibung ab (9,1—2). Diese locke ihre
Leser durch bunte und attraktive Inhalte (Mythen, genealogische Geschichten,
Stammessagen, Erzählungen von Kolonie- und Städtegründungen) und emotio-
nal fesselnde Darstellungsweisen an. Der pragmatischem Historiographie (die
sich allein auf die politisch-militärische Geschichte im engeren Sinne konzen-
triert) gehe es dagegen um Wahrheit und dauernde Relehrung des Lesers, und
so müsse dieser sich hier auf eine eher nüchterne und dröge Lektüre gefaßt
machen. Nicht zuletzt diese Passage läßt deutlich werden, wie schwer es die
seriöse Geschichtsschreibung hat, ihren Platz gegen die zwar seichte, aber
offenbar erfolgreiche Konkurrenz zu behaupten.
Diese Konkurrenz präsentiert sich auch in einer anderen Variante. Sie zielt
darauf ab, das historische Substrat fiktional zu erweitern und mit romanhaften
Elementen anzureichern, vor allem mit Liebesgeschichten: ein Prozeß der Ero-
tisierung und Entpolitisierung des Genres, in dem ein weiteres Mal ein Spe-
zifikum hellenistischen Mentalitätswandels zum Ausdruck kommt. Auch das
Exotische und Wunderbare spielt inhaltlich eine wichtige, das eigentlich Histo-
rische überlagernde Rolle. Dieses Moment kann sich natürlich besonders stark
in Darstellungen des Alexanderzuges niederschlagen und erreicht schließlich
seine extreme Ausprägung in der wild wuchernden Phantastik des Alexander-
282
DIE LITERATUR ALS SPIEGEL EPOCHALEN WANDELS