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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 3.1908

DOI Artikel:
Conrad, Waldemar: Der ästhetische Gegenstand, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.3433#0076
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72 WALDEMAR CONRAD.

Die dem gewöhnlichen Leben nächstliegende1) Art wissen-
schaftlicher Verarbeitung ist Beschreiben, Gruppieren und syste-
matisches Ordnen, wo man dann die Kunstwerke und jene psychischen
Geschehnisse wie andere Dinge und Vorgänge in der Natur behan-
delt, wo man etwa verfährt, wie die beschreibende Botanik und Zoo-
logie mit ihrem vorgefundenen Stoff.

Und ebenso wie diese Wissenschaften wird auch die Ästhetik
sodann dazu fortschreiten, Gesetzmäßigkeiten aufzusuchen (Entwicke-
lungsgesetze u. s. w.) und wird von dem bloßen Aufsuchen endlich
zur planvollen experimentellen Bestimmung der Gesetze der Wechsel-
wirkung zwischen Kunstwerk und Mensch übergehen.

So schlägt die Ästhetik, wenn sie ihren Ausgangspunkt im gewöhn-
lichen Leben nimmt, zunächst dieselben Wege wie die Naturwissen-
schaften ein, weil auch das gewöhnliche Leben völlig von dem kau-
salen und naiv substantialen Gesichtspunkt beherrscht wird.

Weiter aber kann sie den Naturwissenschaften nicht folgen; denn
der Übergang zu den exakten Kausalgesetzen, wie ihn die theoretische
Physik und Chemie macht, würde uns zwingen, für die Statue oder
die Musik Atomkomplexe, Luft- und Ätherschwingungen zu substi-
tuieren, und das hieße die Sphäre des Künstlerischen und somit des
Ästhetischen offensichtlich verlassen 2)3).

') Jedenfalls ist dies die der heutigen Zeit nächstliegende Art wissenschaft-
licher Verarbeitung, einer Zeit, der die naturwissenschaftlichen Interessen und die
Erfolge, die wir den naturwissenschaftlichen Methoden zu verdanken haben, das
Gepräge gibt. — In obigem soll also nicht etwa die historische, wirkliche Entwicke-
lung wiedergegeben werden, sondern ein Gang, wie ihn ein heutiger, unbefangener
Mensch vernünftigerweise einzuschlagen hätte, und diese Darstellung soll zeigen,
wie ein solcher über diese naturwissenschaftlichen Methoden hinausgeführt wird.
Tatsächlich hat die Ästhetik natürlich schon früh gefragt, weshalb wir das eine
»schön« finden, das andere nicht, und dafür Gründe mehr oder weniger spekulativer
Art angegeben.

2) Dagegen kann man an diese naturwissenschaftliche Gesetzesästhetik in diesem
Gedankenzusammenhang das Aufstellen von ästhetischen »Postulaten« schließen
durch einfache Umwendung der zuvor genannten Gesetze in die normative Form.
Aus dem Satz: »Das normale Auge folgt erfahrungsgemäß unwillkürlich einem in der
Ferne sich verlierenden Weg, einer Pappelallee u. s. w. von den mächtigen vordersten
Bäumen an in die Tiefe«, wird der normative Satz: »Wenn du das Auge von vorn
nach hinten ziehen willst, so ist eine Pappelallee u. dergl. ein sehr geeignetes
Mittel.« — Dies ist zunächst noch eine bedingte Gesetzesform, geht aber dann in
eine unbedingte über und wird ästhetische Norm durch die Zurückführung auf die
allgemeine Bedingung der »Schönheit«, die in dem Sinne des Künstlerisch-wertvollen
das letzte Prinzip aller Ästhetik ist. Wenn wir also dem vorgenannten Satze den
anderen hinzufügen können: »Daß das Auge vom Vordergrund in die Tiefe gezogen
werde, ist erfahrungsgemäß Vorbedingung für das Zustandekommen eines wahrhaft
künstlerischen Eindrucks von einem Gemälde«, dann wird jenes bedingte Postulat
 
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