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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 3.1908

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Conrad, Waldemar: Der ästhetische Gegenstand, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.3433#0096
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92 WALDEMAR CONRAD.

nicht-akustische Welt, mehr oder weniger groß, mehr oder weniger
unbestimmt und in den verschiedensten Adhärenzverhältnissen zu
dem akustischen Kern stehend, aber immer dem Kunstwerk mitzu-
gehörig. Mitgemeint in diesem Sinne ist erstens die schon erwähnte
zeitliche Umgebung: zweitens die Persönlichkeit des Spielers oder
Sängers, nicht als (kausalen) Urhebers der Musik, sondern als die die
Musik darbietende und in ihr sich äußernde Persönlichkeit. Das »Dar-
bieten« und das »Sichäußern« sind dabei zwei verschiedene Adhärenz-
formen, deren erste bei der sogenannten objektiven Musik, deren zweite
bei der subjektiven in den Vordergrund tritt.

Bei einer Bachschen Fuge läßt der Spieler gewissermaßen die ein-
zelnen Stimmen miteinander reden, bei einem Lied wie unserem Bei-
spiel äußert er seine innere Stimmung in dem Rufe: »Heil dir —!«
Notabene ganz abgesehen von dem Text in der Musik schon selbst.
Welche Rolle diese mitgemeinte menschliche Persönlichkeit, einem selbst
nicht immer klar bewußt, spielt, wird z. B. deutlich, wenn man einen
Phonographen hört. Mag man ihn sich auch in idealer Vollkommen-
heit denken, so wird man etwas vermissen; man wird, wenn man die
Augen schließt, einen Menschen beziehungsweise mehrere sich hinzu-
denken und wird einen Shock erfahren, wenn man beim Wiederauf-
schlagen der Augen in das Schallrohr blickt.

Und noch in anderer Weise kann man sich diese Bedeutung vor
Augen führen. Es ist z. B. durchaus nicht ernstlich das Ideal eines
vielstimmigen Chors, tatsächlich alle Unisonostimmen zu so völliger
Übereinstimmung zu bringen, daß sie wie eine mächtige Stimme
klingen, sondern sie sollen gerade klingen — wie ein ganzes Volk.
Gerade darin liegt das Erhebende und Packende, daß sich eine so
große Masse vereint zu demselben sozusagen impulsiven Gefühls-
ausdruck. Das ist etwas, das selbst einem einfachen, abgeleierten Liede
wie »Heil dir im Siegerkranz« — Kraft verleihen kann. Oder aber
man denke an die Chöre der Matthäuspassion! An das »Kreuziget
ihn« u. s. w.

Es ist nun schwer zu beschreiben, in welcher Weise diese Per-
sönlichkeiten mitgedacht werden und mitgemeint sind, auch würde uns
das hier zu weit in die Beschreibung der Erlebnisseite führen; doch
genügt der Hinweis auf visuelle Vorstellungsbilder offenbar nicht. In
dem einfachsten Falle einer rein subjektiven Ausdrucksmusik kann man
den spielenden oder singenden Virtuosen als Repräsentanten der ge-
meinten ausdrückenden Persönlichkeit wie den Schauspieler auf der
Bühne ansehen, nur mit dem Unterschied, daß hier die Repräsentation
keine eigentlich bildliche, sondern eine mehr oder weniger andeutende,
wenn man will, symbolische ist; daher dürfen die Bewegungen des
 
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