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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 3.1908

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Spitzer, Hugo: Der Satz des Epicharmos und seine Erklärungen, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.3433#0210
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HUGO SPITZER.

der ebenso unbedeutenden Verkürzung des anderen Körperteils, aus
der Verbreiterung dieses und der Verschmälerung jenes Stücks bei
unveränderter Zahl, Symmetrie und Mannigfaltigkeit der Stücke, bei
gleicher Verteilung der geraden und krummen Linien eine wesentliche
Erhöhung der ästhetischen Wirkung resultiert. Und doch sind nach
der herrschenden Ansicht derlei Effekte den Variationen des Schön-
heitssinnes vorgezeichnet. Nicht also die Veränderlichkeit des Ge-
schmacks an sich ist das Problem, sondern die vorauszusetzende
Variabilität des Geschmacksinhaltes und die gleichermaßen voraus-
gesetzte Festigkeit der formalen Beziehung, durch die diese Variabilität
gefordert wird. Je weiter und freier der Spielraum der abändernden
Kräfte, umso rätselhafter wird das andere Verhältnis, die strenge Kon-
stanz, womit sich der Geschmack jeder Spezies auf ihre eigene körper-
liche Bildung berechnet zeigt. Daß hier nie ein ungünstiger Eindruck
als Folge der allgemeinen emotionellen Veranlagung zu stände kommt,
daß jede Art den genau für sie passenden Geschmack hat, jeder
physischen Organisation, wie und wo immer sie sich gebildet haben
möge, gerade die Gefühlskräfte beigesellt sind, deren Aktion dank
ihrer inneren Gesetzmäßigkeit ganz von selber die besondere ästhe-
tische Vorzüglichkeit, wo nicht Unübertrefflichkeit des Bildes dieser
Organisation und damit die Erhaltung der Art ergibt, — das betrachtet
alle Welt als selbstverständlich, und doch wäre es vom Standpunkte
der wissenschaftlichen, analytischen Ästhetik, die den elementaren Reiz
eines zahlreiche Eindrücke in sich fassenden Bildes nicht zulassen
kann, nicht sowohl ein Kuriosum als besser ein Wunder zu nennen.
Da ist auch alle Anrufung der psychischen Polymorphie im Tierreiche
fruchtlos. Mit dem behaupteten chaotischen Wechsel auf der einen
Seite kontrastiert eben zu grell — ich spreche immer im Sinne des
Epicharmus und der landläufigen Meinung — die starre, unaufhebbare
Bindung an die Regel auf der anderen.

(Schluß folgt.)
 
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