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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 3.1908

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Buechler, Karl: Die ästhetische Bedeutung der Spannung
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https://doi.org/10.11588/diglit.3433#0212
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208 KARL BÜCHLER.

meinx). Mit allen stärkeren körperlichen Bewegungen sind lebhafte
Spannungsempfindungen verbunden, die teils von den Muskeln, teils
von der Haut stammen. Auch wo es zu keiner äußeren Bewegung
kommt, machen sich oft Spannungsempfindungen bemerkbar, gleich-
sam als Ansatz zu Bewegungen. Ebenso sind die Bewegungen des
Auges von Spannungsempfindungen begleitet, und aus ihrer Ver-
gleichung entsteht zu einem großen Teil das Maß für zurückgelegte
Raumgrößen 2). Überhaupt sind an dem Zustandekommen der räum-
lichen und zeitlichen Vorstellungen gewisse Spannungsempfindungen
beteiligt3). Schließlich ließe sich jede Reizung unserer Sinne als eine
Anspannung der betreffenden Sinne betrachten, und bei jedem auf-
merksamen Gebrauch derselben kommt sie wohl auch deutlich zum
Bewußtsein. Sie ist immer das dynamische bezw. formale Element,
das den Inhalt oder die ästhetische Sinnesqualität begleitet4). So können
wir dann das ganze Gebiet unserer Sinnlichkeit, sowohl wenn sie
durch die »äußere« Wirklichkeit, als wenn sie durch die »inneren«
Erinnerungsvorstellungen angeregt wird, in fortlaufenden Anspannungen
durchwandern. Ihre verschiedenen Grade werden gewöhnlich nur durch
allgemeine Bezeichnungen wie: stark, schwach, angegeben; genauere
Abstufungen könnte erst die Psychophysik festzustellen versuchen.

Die physiologische Psychologie übernimmt es einstweilen, die
hauptsächlichsten Bedingungen aufzufinden, die bei dem Vorgange
wirksam sind. Es sind einerseits Reize, die eine bestimmte Stärke
haben, andererseits unsere Nervenspannungen, die ein Anspannen
überhaupt erst ermöglichen 5). Die mathematischen Naturwissenschaften
und speziell die Physik beschäftigen sich mit der objektiven Seite,
d. h. sie bestimmen den äußeren Reiz als Schwingungen von be-
stimmter Größe und Anzahl. So beziehen wir dann unsere subjektive
Spannungsempfindung auf ein »anspannendes« Objekt, bezw. auf
Schwingungen oder Spannungen im Objekte. 'Von der weiteren natur-
wissenschaftlichen Ausgestaltung des Spannungsbegriffes seien hier

a) Wundt, Gr. d. Psych. S. 57, teilt die inneren Tastempfindungen nach ihren
Entstehungsbedingungen ein: in Bewegungs- oder Kontraktionsempfindungen und
Spannungs- oder Kraftempfindungen.

2) Ebenda S. 146/147, 155/156, 158.

3) Ebenda S. 156 u. 179. Ausführlicheres wissenschaftliches Material heran-
zuziehen würde den Rahmen der Arbeit überschreiten; dies gilt teilweise auch von
manchen folgenden Angaben.

*) Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft § 51, 3. »Stimmung (Spannung) des Sinns«
u. s. w.

5) So versucht Semi Meyer, Übung und Gedächtnis, Wiesbaden 1904, die Ge-
dächtnisfunktion durch Entstehung und Veränderung von Spannungszuständen der
Nerven zu erklären; z. B. S. 57 ff.
 
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