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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 3.1908

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Conrad, Waldemar: Der ästhetische Gegenstand, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.3433#0514
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506

WALDEMAR CONRAD.

Ausländer zu haben pflegt, und jedes Dialektische macht aus der ein-
drucksvollen, idealen Rezitation eine bloße Bemühung um Wiedergabe1),
die leicht sogar den Charakter des Lächerlichen annimmt. Dabei ge-
nügt es, wenn die Abweichungen auch nur einen einzigen Laut
betreffen, z. B. das s oder r, das der Vortragende etwas lispelt oder
schnurrt, Abweichungen, die objektiv, naturwissenschaftlich betrachtet,
ganz verschwindend klein sind im Vergleich mit zulässigen Ab-
weichungen in anderer Hinsicht.

Die absolute Sprechhöhe z. B. kann, das sieht man sofort, inner-
halb mehrerer Töne, ja Oktaven variieren, ohne die Vollkommenheit
der Wiedergabe2) wesentlich zu gefährden. Nur dürfte vielleicht ein
Gedicht wie unser Beispiel an die Wiedergabe durch eine Männer-
stimme insofern gebunden sein, als es sonst doch wohl den Charakter
der Bildlichkeit annimmt. Obwohl nämlich der Rezitator nur in ent-
fernter Weise Repräsentant des Sprechenden ist und nicht wirklicher
Darsteller, wie der Schauspieler, so entsteht bei so ausgesprochen
subjektiver Ausdruckspoesie3) doch ein gewisses Gefühl der Diskre-
panz, als Anzeichen, daß die Wiedergabe nur als eine uneigentliche
aufgefaßt ist4). Dagegen ist allerdings die Wiedergabe schon sehr
viel sensibler gegen Variationen der relativen Tonhöhe bei einem
Sprechenden; denn die in die Höhe geschraubte Stimme ist durchaus
nicht mehr im stände, den poetischen Gegenstand »selbst« wiederzu-
geben. Übrigens ist dies, naturwissenschaftlich betrachtet, genau ge-
nommen eine Empfindlichkeit gegen die Klangfarbe, nicht gegen die
Höhe.

Und wie gegen die persönlich-relative Tonhöhe, so ist die Poesie
auch gegen die relative Tonhöhe im Sinne des Tonfalls wesentlich
empfindlicher. Doch wir können dies hier nur andeuten.

Bei der Bedeutung muß man vor allem die Weife derselben in
Hinblick auf die Gegenstände, die sie umfaßt, von ihrer Unbestimmt-
heit im Sinne der Irrelevanz unterscheiden. Doch ist es wohl selbst-
verständlich, daß wir nicht jedesmal wirklich identisch dasselbe Be-
deutungserlebnis haben, wenn wir ein Wort verstehen. Was man bei
darauf gerichteter Aufmerksamkeit zunächst entdeckt, sind aber immer
Variationen in den repräsentierenden (oder illustrierenden) Vorstellungen

*) Es gefährdet also zunächst die Vollkommenheit der Realisation, nicht die
Identität des Gegenstandes oder seiner »Ansicht«.

2) Vgl. S. 500, Anmerkung 2.

s) Sofern sie inmitten einer epischen Erzählung stehen, können natürlich die
Worte eines Mannes auch von einer Frau angemessen gelesen werden.

*) Das alles sind zunächst und vor allem empirisch-psychologisch bedeutungs-
volle Momente, von denen wir hier die phänomenologische Seite im Auge haben.
 
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