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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 3.1908

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Conrad, Waldemar: Der ästhetische Gegenstand, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.3433#0519
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DER ÄSTHETISCHE GEGENSTAND.

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andere; die Stimmung in uns aber ist notwendig (wenn auch vielleicht
eine vorgestellte Stimmung), denn sie ist das Realpsychologisch-iden-
tische, das wir in das Gedicht hineinverlegen, »einfühlen«, wie man
sich auszudrücken pflegt. Auch wenn ich mich »eingefühlt« habe in
dem engeren Sinne, z. B. in eine Person, so daß ich mich an ihre
Stelle versetzt habe und nun nicht mehr sie reden »höre«, son-
dern (eben an ihrer Stelle) rede oder zu reden meine, so ist das,
von diesem natürlichen Standpunkt aus betrachtet, eine Täuschung,
ein »Schein«; »in Wirklichkeit« ist das »Ich« an meinen Körper ge-
bunden, abhängig von dessen Zuständen, daher unter anderem natür-
lich auch von dem, was er von außen an Eindrücken aufnimmt. So
bleibt von unserem »ästhetischen Gegenstand« für diese Weltauf-
fassung nichts als die Wortlaute als das einzig »Objektive«, alles
übrige verteilt sich als psychische Vorgänge auf die beiden Personen,
den Redenden und den Hörenden, und die Eindrücke des letzteren
sind teils der »Wirklichkeit« entsprechend, teils nicht1). Aber auch
dieser akustische Kern ist wesentlich anders, als wir es bei unserem
ästhetischen Gegenstand beschrieben haben. Doch können wir hier
auf das verweisen, was wir schon bei dem musikalischen Gegenstand
ausgeführt haben: Rhythmus und Tonfall u. s. w. entsprechen ganz dem
Rhythmus und der Melodielinie in der Musik.

Wieder anders gestaltet sich das Bild, wenn wir diese Verhältnisse
v°n dem naturwissenschaftlichen Standpunkt aus betrachten.
Dort löst sich auch noch das bisher naiv hingenommene Phänomen
des Wortlautes als bloßer »Schein« auf. Es bleibt wie bei dem akusti-
schen Kern der Musik nichts als ein Komplex von Luftschwingungen
einerseits und gewisse physiologische Vorgänge, die wir noch nicht
derartig mechanisch ausdrücken können, andererseits.

So haben wir also auch nach dieser Untersuchung der Poesie daran
festzuhalten, daß sich in den ästhetischen Gegenständen eine eigenartige
Welt konstituiert, die man von dem natürlichen Standpunkt, dem des
gewöhnlichen Lebens, allerdings mit Recht als eine Welt des »Scheins«
bezeichnet, die aber bei dem ästhetischen Genuß und der ästhetischen
Wertung denselben Anspruch hat, ihrerseits nicht mit fälschlich hinein-
gebrachten Wirklichkeitsauffassungen vermengt zu werden.

J) Je nachdem würde er sich in seinem »Handeln« danach »richten« oder nicht.

(Schluß folgt.)
 
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