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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 3.1908

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Friedemann, Käte: Untersuchungen über die Stellung des Erzählers in der epischen Dichtung
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https://doi.org/10.11588/diglit.3433#0521
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DIE STELLUNG DES ERZÄHLERS IN DER EPISCHEN DICHTUNG. 513

spezielle Situation aufgefaßt wünscht, am wenigsten über seine Per-
sonen, die ihren Charakter, ihr Wollen, Wähnen, Wünschen ohne seine
Nach- und Beihilfe durch ihr Tun und Lassen, ihr Sagen und Schwei-
gen exponieren müssen.« (Die epische Poesie u. Goethe, Goethejahr-
buch 1895, S. 5.)

Was Spielhagen eigentlich fordert, ist nicht Objektivität, sondern
dramatische Illusion; er verwechselt diese beiden Begriffe miteinander.
Objektivität verlangen wir von jedem guten Kunstwerk, nicht bloß
vom epischen, bis zu einem gewissen Grade sogar von der Lyrik.
Aber sie hat gar nichts mit einer besonderen Darstellungsform zu
tun. Wo fänden wir wohl ein so souveränes über dem Stoffe Stehen
Wle in der romantischen Ironie, der das ganze Leben nur ein Spiel
bedeutet, und wo mischte sich der Form nach der Dichter mehr in
seine Darstellung, als gerade dort? Die dramatische Illusion aber be-
steht darin, daß in uns die Vorstellung erweckt wird, als seien wir
selbst unmittelbare Zeugen eines sich gegenwärtig abspielenden Vor-
ganges. Diese Illusion wird nun ganz notwendig schon durch die
0rm einer jeden Erzählung als solcher zerstört; denn wir vergessen
niemals vollkommen, daß uns etwas erzählt wird. Es kann daher
unmöglich Aufgabe der epischen Kunst sein, eine Wirkung anzu-
streben, die sie im besten Falle nur halb erreichen wird. Jeder Er-
zähler bringt uns seine Vorgänge als vergangene oder erfundene —
00 wirklich vergangen oder nur erfunden, ist dabei für die Erweckung
der epischen Illusion gleichgültig. Denn diese gründet sich nur auf
d'e eine Wirklichkeit, daß ein gegenwärtiger Erzähler, als Medium,
von vergangenen Ereignissen berichtet1).

'st dem nun aber so, so liegt meines Erachtens nicht die geringste
Nötigung für den Erzähler vor, sich, wie es noch der Goethe-Schiller-
Sche Aufsatz über epische und dramatische Dichtung (Schiller, Säk.-
Ausg. Bd. 12, S. 323) verlangt, hinter einem Vorhang zu verbergen.
Dadurch würde die an sich ganz natürliche Vorstellung von einem
Erzähler zu der recht unnatürlichen von einer mysteriösen Stimme aus
dem Hintergrund, die nicht verraten will, wer sie ist. Denn von der
Vorstellung einer Stimme kommen wir nun einmal doch nicht los.
Es ist mir hier nicht darum zu tun, der Humboldt-Spielhagen-

l) Vgl. Gottsched, Krit. Dichtkunst. Leipzig 1737, S. 656. J. J. Engel, Schriften
d. IV, 177^ S. 109, 222, 263 ff. Goethe, Shakespeare und kein Ende. Jub.-Ausg.
o..' 37> s- 46. Goethe und Schiller, Über epische u. dramat. Dichtung. Schiller,
^ak.-Ausg. Bd. 12, S. 321 ff. Schiller an Goethe Nr. 398. Briefw. hrsg. v. Spemann,
°d- I. S. 371. W. v. Humboldt, Ästh. Versuche S. 219, 224. Otto Ludwig, Bd. VI
• 2°6, 252, 272. J. Wassermann, Die Kunst der Erzählung (Die Literatur, hrsg.
yon Brandes) S. 30.
 
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