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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 3.1908

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Friedemann, Käte: Untersuchungen über die Stellung des Erzählers in der epischen Dichtung
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https://doi.org/10.11588/diglit.3433#0522
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KÄTE FRIEDEMANN.

sehen Forderung eine andere Forderung entgegenzusetzen. Ich sage
nicht, der Erzähler soll sich einmischen, sondern ich will zu zeigen
versuchen, daß er es tatsächlich fast überall da tut, wo seine Technik
sich von der des Dramatikers unterscheidet.

Dabei möchte ich eins bemerken: Wenn im folgenden von dra-
matischer und epischer Technik die Rede sein wird, so ist damit
nicht gemeint, daß die eine nur im Drama, die andere nur im Eposx)
anwendbar sein dürfe; sondern ich verstehe unter dramatischen Mitteln
solche, die der Dramatiker anwenden muß, weil es die einzigen
sind, die ihm zu Gebote stehen, während sich der Erzähler außerdem
noch anderer Formen bedienen kann, die eben das besondere Wesen
seiner Kunst ausmachen.

Selbst der Fanatiker der Grenzen, Lessing, gibt zu, daß die strenge
Scheidung der Gattungen nur für die Lehrbücher da sei2). Goethe
erkennt zwar drei echte Naturformen der Dichtung an, will sie aber
vermischt vorkommen lassen3). Und Schiller gegenüber äußert er sich
dahin, daß man nur deshalb so streng scheiden solle, um sich nach-
her wieder etwas erlauben zu dürfen; denn, so begründet er seine
Ansicht: »Ganz anders arbeitet man aus Grundsätzen als aus Instinkt,
und eine Abweichung, von deren Notwendigkeit man überzeugt ist,
kann nicht zum Fehler werden«4).

Es sei also noch einmal gesagt: Der Erzähler kann sich sehr wohl
unter Umständen dramatischer Mittel bedienen; er soll dann nur wissen,
daß es eben dramatische sind. Aus dieser Möglichkeit aber das Ge-
setz abzuleiten, daß es so sein müsse, halte ich für gänzlich verfehlt.
Denn dem Dramatiker steht ja ein Mittel zu Gebote, das dem Er-
zähler versagt ist, das der plastischen Darstellung auf der Bühne.
Ohne sie wird er niemals volle Anschauung bieten können. Der Er-
zähler dagegen muß durch sein Wort der Phantasie des Lesers zu
Hilfe kommen. Er kann dabei, wenn er es versteht und die Phantasie
des Lesers stark genug ist, unter Umständen größere Wirkungen er-
zielen als der Theaterregisseur, nimmermehr aber kann er es durch
dramatische Mittel allein, die eben auf die Hilfe des Regisseurs an-
gewiesen sind.

') Unter Epos oder epischer Dichtung verstehe ich hier immer nur die Form
der Erzählung im allgemeinen, ohne die besonderen Unterschiede von Epopöe,
Roman und Novelle zu berücksichtigen.

2) Lessing, Hamb. Dramaturgie Stück 48.

3) Goethe, Naturformen der Dichtung. J.-A. Bd. V, S. 223 ff.

4) Goethe an Schiller, 30. Dez. 1797. — Über die Notwendigkeit, bei Grenz-
bestimmungen nicht zu rigoros zu verfahren, vgl. auch Dessoir, Zeitschr. f. Asth.
II, S. 458.
 
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