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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 3.1908

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Westheim, Paul: Künstlerische Schriftformen
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https://doi.org/10.11588/diglit.3433#0571
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KÜNSTLERISCHE SCHRIFTFORMEN.

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bare Veränderungen aufgetaucht; jedes Zeitalter hat auch den Buch-
stabenformen ein seiner optischen Anschauung und seinem Stilgefühl
entsprechendes charakteristisches Gepräge zu verleihen gesucht. Aber
abgesehen von all den Willkürlichkeiten, die einer Laune entsprungen
und einer besseren Einsicht sofort wieder geopfert worden sind, ist
z- B. für unsere lateinische Schrift der Orundzug oder das, was der
französische Maler Henri Matisse »die Konstruktion der Dinge«
2u nennen pflegte, im ganzen und großen seit Jahrtausenden unver-
ändert geblieben. Als beliebtes Schulbeispiel pflegt den Betrachtungen
über die Entwicklung der Schriftformen gern eine Schilderung bei-
gegeben zu werden, wo gewöhnlich an einer Illustration gezeigt wird,
. w'e die römische d. h. unsere Majuskel A auf dem Umweg über den
Buchstaben aleph des semitischen und alpha des griechischen Alpha-
betes aus der ägyptischen Hieroglyphe des Apiskopfes mit den zwei
"örnern entstanden ist1). Eigentlich ist für das römische Alphabet,
a'so seit mehr als 2000 Jahren, der Querbalken im A vollständig über-
flüssig. Die Griechen hatten zur Unterscheidung des aus dem phöni-
zischen Iameth gebildeten lambda (A) für das A den wagrechten
strich nötig, »der«, wie Javale2) schreibt, »zwar weniger gefährlich, aber
ebenso unnütz ist, wie der Wurmfortsatz unseres Dickdarmes, der
von den modernen Ärzten so sehr als schädlich verschrieen wird. Nach
fieser Beweisführung würden die Archäologen vielleicht einer Verein-
fachung unseres A beistimmen, aber das Publikum würde ihnen nicht
*°'gen. Bis zum Ende der Welt wird man, ohne zu wissen warum,
den Strich im A beibehalten, und es wäre töricht, Bemühungen zu
seiner Unterdrückung zu machen!« Daß die Logik hier einmal nicht
gesiegt hat, ist eigentlich ganz erfreulich, denn das spitzwinklige Drei-
eck des A, ohne den Querbalken, würde zwischen den meist recht-
eckigen Gemeinen noch mehr als bisher eine unschön klaffende Lücke
ln den Druckspiegel reißen. Auch der Setzer wäre gewiß nicht sonder-
en erbaut über die dann unausbleiblichen Verwechslungen mit dem V.
,'eser Seitensprung auf das historische Gebiet, das übrigens eine
e'gene Literatur behandelt8), war notwendig, um knapp und klar zu
2eJgen, daß eine Weiterbildung unserer Schriftformen nur möglich
Sem wird in dem nun einmal gesteckten Rahmen und daß aller Erfah-
rung nach eine Schöpfung nur Bestand haben dürfte, wenn sie
Unserem Zeitempfinden entsprechend auf dem Boden des

) R- Kynast, Von der Gänsefeder bis zur Schreibmaschine, S. 19.
s ) Emüe Javale, Die Physiologie des Lesens und des Schreibens, Leipzig 1907,

18 ^ Ich nenne hier nur Karl Faulmann, Illustrierte Geschichte der Schrift, Wien
• Karl Faulmann, Illustrierte Geschichte der Buchdruckerkunst, Wien 1882.
 
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