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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 3.1908

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Westheim, Paul: Künstlerische Schriftformen
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https://doi.org/10.11588/diglit.3433#0572
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PAUL WESTHEIM.

Gewordenen und aus dem Gewordenen heraus gestaltet
wurde.

Diese Erwägung mußte selbstverständlich sein. Schon aus einem
anderen Grunde: der Leserlichkeit.

Das Lesen besteht nicht allein in der optischen Erfassung einer
Anzahl von Schriftzeichen. Mit diesem sinnlichen Eindruck, den das
Auge aufzunehmen hatte, wird eine Kette von einander folgenden Vor-
stellungen ausgelöst, deren Schlußglied die Aneignung des geistigen
Gehaltes ist. Die ornamentale Folge der Buchstaben ist lediglich der
Mittler; und der Leser hat die Aufgabe, diese sinnliche Ausdrucks-
form zu überwinden, sie zu durchdringen, um zum Verständnis des
Geschriebenen oder Gedruckten zu gelangen. Jeder Buchstabe hat
nun seine »typische Form«. Sie ist allen bekannt, die mindestens eine
Elementarschulbildung genossen haben. Der Grundcharakter, der
einmal erlernt ist und im Gedächtnis haftet, ermöglicht eine nahezu
mechanische Aufnahmefähigkeit. Unwesentliche und nebensächliche
Veränderungen üben als Kennzeichen so wenig störenden Einfluß aus,
als ob sie gar nicht vorhanden wären. Dagegen wird jede merkliche
Abweichung von dem Grundcharakter als lästig empfunden werden.
Sie ist eine Vermehrung und Erschwerung der Arbeit, die das Auge
zu leisten hat. Eine Schriftform sollte es dem Leser ermöglichen, mit
der denkbar größten Bequemlichkeit und Schnelligkeit über den ersten
Zustand der Aufnahmetätigkeit hinwegzuschnellen. Nach dem Grade
dieses Entgegenkommens wird man den Nutzen und wohl auch den
Wert einer Schrift zu beurteilen haben. Hindernisse, die hier schon
das geistige Erfassen erschweren, wird niemand zu rechtfertigen
wagen. Sie sind nichts als eine überflüssige Belästigung des Lesen-
den. Schriftformen, die sich als solche bemerkbar machen, werden
im allgemeinen nicht viel taugen, da sie ja eigentlich vom Auge blitz-
schnell »übersehen« werden sollten. Wo hierzu besondere Anstren-
gungen notwendig sind, darf man mit Recht von unleserlichen oder
schwer leserlichen Buchstaben sprechen.

Wollte man nun einfach die einzelnen Buchstaben eines Alphabetes,
ihre Formen und ihre Unterscheidungsmerkmale, untersuchen und
hieraus Schlüsse über die Lesbarkeit dieser Schrift ziehen, so würde
man zu einem Ergebnis gelangen, das keineswegs den Tatsachen ent-
spricht. Es ist ein weit verbreiteter Irrtum, daß nur die Buchstaben-
silhouette maßgebend für den Grad der Lesbarkeit ist. Der Vorgang
des Lesens ist viel verwickelter als gewöhnlich angenommen wird.
Kein Mensch — abgesehen von den Abc-Schülern — liest, indem er
einen Buchstaben nach dem anderen entziffert und dann die erkannte
Folge zu einem Wort zusammenfaßt. Das Ziel des Lesers ist niemals,
 
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