BEMERKUNGEN.
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ästhetischen Geschehens nicht hinauszudringen. Bei der offenbaren Kongruenz der
eigentlich konstituierenden Linien in der seelischen Struktur des klassischen und
des modernen Menschen ist es also selbstverständlich, daß die allgemeinsten
psychologischen Feststellungen der modernen Ästhetik das gegebene Bestätigungs-
material in der klassischen Kunstproduktion finden, während schon bezeichnender-
weise die komplizierte Weiterbildung der modernen Kunst nicht mehr in dieser
ABC-Ästhetik aufgeht. Das gegebene Paradigma aller Ästhetik ist und bleibt also
die klassische Kunst. Dieses enge Abhängigkeitsverhältnis eröffnet demjenigen, der
sehen will, die ganze Problematik unserer üblichen Methode der rückschauenden
Kunstbetrachtung.
Dieser landläufigen Auffassung ergibt sich ein sehr einfaches Schema der Kunst-
entwickelung, das sich einzig an den klassischen Höhepunkten orientiert. So wird
der Verlauf der künstlerischen Entwickelung auf eine leicht zu überschauende
Wellenbewegung reduziert: was vor den betreffenden klassischen Höhepunkten
liegt, wird zum unvollkommenen aber als Hinweis zur Höhe bedeutsamen Versuch,
was über die Höhepunkte hinausliegt, zum Niedergangs- und Verfallsprodukt ge-
stempelt. Innerhalb dieser Skala bewegen sich all unsere Werturteile.
In dieser denkfaulen gewohnheitsmäßigen Schätzung liegt eine Vergewaltigung
des eigentlichen Tatbestandes, die nicht ohne Einsprache bleiben darf. Denn diese
Betrachtungsweise aus dem beschränkten Gesichtswinkel unserer Zeit heraus ver-
stößt gegen das ungeschriebene Gesetz aller objektiven historischen Forschung, die
Dinge nicht von unseren, sondern von ihren Voraussetzungen aus zu werten.
Jede Stilphase stellt für die Menschheit, die sie aus ihren psychischen Bedürfnissen
heraus schuf, das Ziel ihres Wollens und deshalb den größten Grad von Vollkommenheit
dar. Was uns heute als größte Verzerrung befremdet, ist nicht Schuld eines mangel-
haften Könnens, sondern Folge eines anders gerichteten Wollens. Man konnte
nicht anders, weil man nicht anders wollte. Diese Einsicht muß am Beginn
alles stilpsychologischen Bemühens stehen. Denn wo wirklich im Schaffen vergange-
ner Epochen eine Differenz zwischen Können und Wollen besteht, ist sie selbstver-
ständlich von der großen Distanz unseres Standpunkts aus nicht mehr wahrzunehmen.
Jene Differenz aber, die wir zu sehen glauben, und die unsere Werturteile so ein-
seitig färbt, ist in Wahrheit nur die Differenz zwischen unserem Wollen und dem
Wollen der betreffenden Vergangenheitsepochen, also ein ganz subjektiver und von
unserer Einseitigkeit gewaltsam in den ruhigen gleichmäßigen Gang der Begeben-
heiten hineingetragener Gegensatz. Damit soll natürlich die Tatsache einer Ent-
Wickelung in der Kunstgeschichte nicht abgeleugnet, sondern nur in die richtige
Beleuchtung gestellt werden, in der sie nicht mehr als eine Entwickelung des
Könnens, sondern als eine Entwickelung des Wollens erscheint.
In demselben Augenblick, wo uns diese Erleuchtung über das Wesen der künstle-
rischen Entwickelung trifft, sehen wir auch die Klassik in einem neuen Licht. Und
wir erkennen die innere Beschränktheit, die uns in den klassischen Epochen abso-
hite Höhepunkte und Erfüllungsgipfel alles künstlerischen Schaffens erblicken ließ,
obwohl sie in Wirklichkeit nur bestimmte und abgegrenzte Phasen der Entwicke-
lung bezeichnen, in denen sich das künstlerische Wollen mit den Grundlinien unseres
Wollens berührte. Wir dürfen also den Wert, den die Klassik unter diesen Um-
ständen für uns hat, nicht zu einem absoluten stempeln, dürfen ihm nicht den
ganzen übrigen Komplex künstlerischer Produktion unterordnen. Denn damit ver-
stricken wir uns in eine endlose Kette von Ungerechtigkeiten.
Nur den klassischen Epochen gegenüber können wir gleichzeitig subjektiv und
objektiv sein. Denn hier fällt dieser Gegensatz weg, hier begehen wir kein Un-
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ästhetischen Geschehens nicht hinauszudringen. Bei der offenbaren Kongruenz der
eigentlich konstituierenden Linien in der seelischen Struktur des klassischen und
des modernen Menschen ist es also selbstverständlich, daß die allgemeinsten
psychologischen Feststellungen der modernen Ästhetik das gegebene Bestätigungs-
material in der klassischen Kunstproduktion finden, während schon bezeichnender-
weise die komplizierte Weiterbildung der modernen Kunst nicht mehr in dieser
ABC-Ästhetik aufgeht. Das gegebene Paradigma aller Ästhetik ist und bleibt also
die klassische Kunst. Dieses enge Abhängigkeitsverhältnis eröffnet demjenigen, der
sehen will, die ganze Problematik unserer üblichen Methode der rückschauenden
Kunstbetrachtung.
Dieser landläufigen Auffassung ergibt sich ein sehr einfaches Schema der Kunst-
entwickelung, das sich einzig an den klassischen Höhepunkten orientiert. So wird
der Verlauf der künstlerischen Entwickelung auf eine leicht zu überschauende
Wellenbewegung reduziert: was vor den betreffenden klassischen Höhepunkten
liegt, wird zum unvollkommenen aber als Hinweis zur Höhe bedeutsamen Versuch,
was über die Höhepunkte hinausliegt, zum Niedergangs- und Verfallsprodukt ge-
stempelt. Innerhalb dieser Skala bewegen sich all unsere Werturteile.
In dieser denkfaulen gewohnheitsmäßigen Schätzung liegt eine Vergewaltigung
des eigentlichen Tatbestandes, die nicht ohne Einsprache bleiben darf. Denn diese
Betrachtungsweise aus dem beschränkten Gesichtswinkel unserer Zeit heraus ver-
stößt gegen das ungeschriebene Gesetz aller objektiven historischen Forschung, die
Dinge nicht von unseren, sondern von ihren Voraussetzungen aus zu werten.
Jede Stilphase stellt für die Menschheit, die sie aus ihren psychischen Bedürfnissen
heraus schuf, das Ziel ihres Wollens und deshalb den größten Grad von Vollkommenheit
dar. Was uns heute als größte Verzerrung befremdet, ist nicht Schuld eines mangel-
haften Könnens, sondern Folge eines anders gerichteten Wollens. Man konnte
nicht anders, weil man nicht anders wollte. Diese Einsicht muß am Beginn
alles stilpsychologischen Bemühens stehen. Denn wo wirklich im Schaffen vergange-
ner Epochen eine Differenz zwischen Können und Wollen besteht, ist sie selbstver-
ständlich von der großen Distanz unseres Standpunkts aus nicht mehr wahrzunehmen.
Jene Differenz aber, die wir zu sehen glauben, und die unsere Werturteile so ein-
seitig färbt, ist in Wahrheit nur die Differenz zwischen unserem Wollen und dem
Wollen der betreffenden Vergangenheitsepochen, also ein ganz subjektiver und von
unserer Einseitigkeit gewaltsam in den ruhigen gleichmäßigen Gang der Begeben-
heiten hineingetragener Gegensatz. Damit soll natürlich die Tatsache einer Ent-
Wickelung in der Kunstgeschichte nicht abgeleugnet, sondern nur in die richtige
Beleuchtung gestellt werden, in der sie nicht mehr als eine Entwickelung des
Könnens, sondern als eine Entwickelung des Wollens erscheint.
In demselben Augenblick, wo uns diese Erleuchtung über das Wesen der künstle-
rischen Entwickelung trifft, sehen wir auch die Klassik in einem neuen Licht. Und
wir erkennen die innere Beschränktheit, die uns in den klassischen Epochen abso-
hite Höhepunkte und Erfüllungsgipfel alles künstlerischen Schaffens erblicken ließ,
obwohl sie in Wirklichkeit nur bestimmte und abgegrenzte Phasen der Entwicke-
lung bezeichnen, in denen sich das künstlerische Wollen mit den Grundlinien unseres
Wollens berührte. Wir dürfen also den Wert, den die Klassik unter diesen Um-
ständen für uns hat, nicht zu einem absoluten stempeln, dürfen ihm nicht den
ganzen übrigen Komplex künstlerischer Produktion unterordnen. Denn damit ver-
stricken wir uns in eine endlose Kette von Ungerechtigkeiten.
Nur den klassischen Epochen gegenüber können wir gleichzeitig subjektiv und
objektiv sein. Denn hier fällt dieser Gegensatz weg, hier begehen wir kein Un-