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BEMERKUNGEN.
recht, wenn wir mit der ganzen Skrupellosigkeit unserer üblichen kunsthistorischen
und ästhetischen Wertung dem Können der Vergangenheit unser Wollen substituieren.
Beim ersten Schritt aber von der Klassik weg, sei es zurück oder vorwärts, beginnt
die Versündigung am Geist der Objektivität. Absolute Objektivität ist uns gewiß
nicht möglich, aber diese Erkenntnis gibt uns kein Recht, bei der Banalität stehen
zu bleiben, anstatt den Versuch zu machen, das Maß subjektiver Kurzsichtigkeit und
Beschränktheit nach Möglichkeit herabzuschrauben. Wir stehen allerdings, sobald
wir die gewohnten Geleise unserer Vorstellungen verlassen, im Wegelosen und
Unbekannten. Keine Orientierungspunkte bieten sich uns. Wir müssen sie viel-
mehr in vorsichtigem Vordringen uns selbst schaffen. Auf die Gefahr hin, daß wir
uns anstatt an Thesen an Hypothesen orientieren.
In der Sphäre der klassischen Kunst war solche Schwierigkeit vermieden. Hier
sahen wir im Können der Vergangenheit die Grundlinien auch unseres Wollens ver-
wirklicht; für das Jenseits der Klassik aber haben wir diesen Anhalt nicht mehr. Hier
gilt es vielmehr, ein anderes Wollen zu entdecken, für das wir keinen anderen
Anhaltspunkt haben als stummes unerwecktes Material. Von dem Können, das sich
an diesem Material äußert, müssen wir auf das ihm zu Grunde liegende Wollen
schließen. Das ist ein Schluß ins Unbekannte hinein, für den es keine anderen
Orientierungspunkte gibt, als eben Hypothesen. Eine andere Möglichkeit der Er-
kenntnis als die Divination, eine andere Gewißheit als die Intuition gibt es hier
nicht. Wie armselig aber und subaltern bliebe jede Geschichtsforschung ohne
diesen großen Zug historischer Divination. Oder sollte diese Erkenntnisart etwa
zurückstehen, wo auf der anderen Seite nichts Besseres steht als die brutale Ver-
gewaltigung der Tatsachen durch subjektive Einseitigkeit?
Unsere Kenntnis der Erscheinungen ist erst dann vollendet, wenn sie an jenen
Punkt gelangt ist, wo alles, was Grenze schien, zum Übergang wird und wir plötz-
lich der Relativität des Ganzen gewahr werden. Die Dinge erkannt haben, heißt
bis zu jenem innersten Kernpunkt ihres Wesens vorgedrungen zu sein, wo sie sich
uns in ihrer ganzen Problematik enthüllen.
So müssen wir auch das Phänomen klassischer Kunst erst in seinem tiefsten
Wesen erfaßt haben, um zu erkennen, daß die Klassik kein Fertiges und Abge-
schlossenes, sondern nur einen Pol bedeutet im kreisenden Weltlauf künstlerischen
Geschehens. Die Entwickelungsgeschichte der Kunst ist rund wie das Weltall und
kein Pol existiert, der nicht seinen Gegenpol hat. So lange wir mit unserem histo-
rischen Bemühen nur den einen Pol umkreisen, den wir Kunst nennen, und der
doch immer nur klassische Kunst ist, bleibt unser Blick beschränkt und weiß nur
um das eine Ziel. Erst in dem Augenblicke, wo wir den Pol selbst erreichen,
werden wir sehend und gewahren das große Jenseits, das zum anderen Pol drängt.
Und der Weg, den wir zurückgelegt, erscheint uns plötzlich klein und gering gegen-
über der Unendlichkeit, die sich nun vor unserem Blick öffnet.
Die banalen Nachahmungstheorien, von denen unsere Ästhetik dank der skla-
vischen Abhängigkeit unseres gesamten Bildungsgehaltes von aristotelischen Be-
griffen nie los kam, haben uns blind gemacht für die eigentlichen psychischen
Werte, die Ausgangspunkt und Ziel aller künstlerischen Produktion sind. Im besten
Falle sprechen wir von einer Metaphysik des Schönen mit Beiseitelassung alles
Unschönen, d. h. Nichtklassischen. Aber neben dieser Metaphysik des Schönen gibt
es eine höhere Metaphysik, die die Kunst in ihrem gesamten Umfang umfaßt und
die über jede materialistische Deutung hinausweisend sich in allem Geschaffenen
dokumentiert, sei es in den Schnitzereien der Maori oder im ersten besten assy-
rischen Relief. Diese metaphysische Auffassung ist mit der Erkenntnis gegeben,
BEMERKUNGEN.
recht, wenn wir mit der ganzen Skrupellosigkeit unserer üblichen kunsthistorischen
und ästhetischen Wertung dem Können der Vergangenheit unser Wollen substituieren.
Beim ersten Schritt aber von der Klassik weg, sei es zurück oder vorwärts, beginnt
die Versündigung am Geist der Objektivität. Absolute Objektivität ist uns gewiß
nicht möglich, aber diese Erkenntnis gibt uns kein Recht, bei der Banalität stehen
zu bleiben, anstatt den Versuch zu machen, das Maß subjektiver Kurzsichtigkeit und
Beschränktheit nach Möglichkeit herabzuschrauben. Wir stehen allerdings, sobald
wir die gewohnten Geleise unserer Vorstellungen verlassen, im Wegelosen und
Unbekannten. Keine Orientierungspunkte bieten sich uns. Wir müssen sie viel-
mehr in vorsichtigem Vordringen uns selbst schaffen. Auf die Gefahr hin, daß wir
uns anstatt an Thesen an Hypothesen orientieren.
In der Sphäre der klassischen Kunst war solche Schwierigkeit vermieden. Hier
sahen wir im Können der Vergangenheit die Grundlinien auch unseres Wollens ver-
wirklicht; für das Jenseits der Klassik aber haben wir diesen Anhalt nicht mehr. Hier
gilt es vielmehr, ein anderes Wollen zu entdecken, für das wir keinen anderen
Anhaltspunkt haben als stummes unerwecktes Material. Von dem Können, das sich
an diesem Material äußert, müssen wir auf das ihm zu Grunde liegende Wollen
schließen. Das ist ein Schluß ins Unbekannte hinein, für den es keine anderen
Orientierungspunkte gibt, als eben Hypothesen. Eine andere Möglichkeit der Er-
kenntnis als die Divination, eine andere Gewißheit als die Intuition gibt es hier
nicht. Wie armselig aber und subaltern bliebe jede Geschichtsforschung ohne
diesen großen Zug historischer Divination. Oder sollte diese Erkenntnisart etwa
zurückstehen, wo auf der anderen Seite nichts Besseres steht als die brutale Ver-
gewaltigung der Tatsachen durch subjektive Einseitigkeit?
Unsere Kenntnis der Erscheinungen ist erst dann vollendet, wenn sie an jenen
Punkt gelangt ist, wo alles, was Grenze schien, zum Übergang wird und wir plötz-
lich der Relativität des Ganzen gewahr werden. Die Dinge erkannt haben, heißt
bis zu jenem innersten Kernpunkt ihres Wesens vorgedrungen zu sein, wo sie sich
uns in ihrer ganzen Problematik enthüllen.
So müssen wir auch das Phänomen klassischer Kunst erst in seinem tiefsten
Wesen erfaßt haben, um zu erkennen, daß die Klassik kein Fertiges und Abge-
schlossenes, sondern nur einen Pol bedeutet im kreisenden Weltlauf künstlerischen
Geschehens. Die Entwickelungsgeschichte der Kunst ist rund wie das Weltall und
kein Pol existiert, der nicht seinen Gegenpol hat. So lange wir mit unserem histo-
rischen Bemühen nur den einen Pol umkreisen, den wir Kunst nennen, und der
doch immer nur klassische Kunst ist, bleibt unser Blick beschränkt und weiß nur
um das eine Ziel. Erst in dem Augenblicke, wo wir den Pol selbst erreichen,
werden wir sehend und gewahren das große Jenseits, das zum anderen Pol drängt.
Und der Weg, den wir zurückgelegt, erscheint uns plötzlich klein und gering gegen-
über der Unendlichkeit, die sich nun vor unserem Blick öffnet.
Die banalen Nachahmungstheorien, von denen unsere Ästhetik dank der skla-
vischen Abhängigkeit unseres gesamten Bildungsgehaltes von aristotelischen Be-
griffen nie los kam, haben uns blind gemacht für die eigentlichen psychischen
Werte, die Ausgangspunkt und Ziel aller künstlerischen Produktion sind. Im besten
Falle sprechen wir von einer Metaphysik des Schönen mit Beiseitelassung alles
Unschönen, d. h. Nichtklassischen. Aber neben dieser Metaphysik des Schönen gibt
es eine höhere Metaphysik, die die Kunst in ihrem gesamten Umfang umfaßt und
die über jede materialistische Deutung hinausweisend sich in allem Geschaffenen
dokumentiert, sei es in den Schnitzereien der Maori oder im ersten besten assy-
rischen Relief. Diese metaphysische Auffassung ist mit der Erkenntnis gegeben,