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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 3.1908

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Westheim, Paul: Künstlerische Schriftformen
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https://doi.org/10.11588/diglit.3433#0573
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KÜNSTLERISCHE SCHRIFTFORMEN.

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sich der in einem Ausdruck enthaltenen Buchstaben bewußt zu werden,
sondern zum Sinn dieses Ausdrucks vorzudringen. Der Blick wird
also stets eine zusammengehörige Gruppe von Buchstabensilhouetten
zu erhaschen suchen, wobei er unter Verzicht auf alle Einzelformen
dem Wortganzen zustrebt. Lamare1) hat in — allerdings noch nicht
abgeschlossenen — Versuchen festgestellt, daß das Auge sich eine
Zeile von etwa 40 Buchstaben in drei bis vier Blickeinheiten mecha-
nisch zerlegt. Mit einem von Verdie konstruierten Mikrophon konnten
die Ruckbewegungen des Auges gemessen werden, die notwendig
waren, um eine Zeile abzutasten. Ferner wurde von Erdmann und
Dodge2) festgestellt, daß diese Abschnitte im allgemeinen etwas größer
waren als der Bezirk des scharfen Sehens. Der Leser hat das Be-
streben, die Ruckbewegungen möglichst zu verringern, weshalb einige
Weitere Buchstaben erraten werden. Bedauerlich ist nur, daß bisher
scheinbar kein Versuch gemacht worden ist, klarzulegen, welchen Ein-
fluß auf dieses Zerlegen der Zeilen in 10—12 Buchstaben die Wort-
oder Sinnzusammengehörigkeit hatte. Es ist doch sehr wahr-
scheinlich, daß dem geistigen Endziel des Lesevorganges hier schon
mechanisch vorgearbeitet wird. Nimmt man z. B. die 20 Buchstaben
der drei Worte: »Teile der Beschreibung«, so dürfte wohl kaum die
Grenze zwischen den beiden Abschnitten in der Mitte, also zwischen
dem e und dem s des letzten Wortes liegen. Ich glaube annehmen
2u dürfen, daß in diesem Falle die Teilung in die 8 Buchstaben der
ersten beiden und die 12 des dritten Wortes geschieht. Endlich
Werden wohl auch kaum die 16 Buchstaben des Wortes: »Sehens-
würdigkeit« etwa in der Weise zerrissen werden, daß zunächst 10 bis
12 Buchstaben erfaßt werden, während der Rest zusammen mit einem
Teil des nächsten Wortes eine Blickeinheit bildet. Es scheint logischer,
daß der geübte Leser sich nach Erfassung des Hauptteiles bemühen
Wird, den gewiß nicht charakteristischen Schwanz »keit« oder gar
»•gkeit« aus dem ungefähren Silhouettenumriß zu erraten. Wie wenig
e,gentlich der Buchstabenumriß im Vergleich zum Wortbild zur Gel-
tung gelangt, beweisen Beobachtungen, die jeder beim flüchtigen
Lesen leicht an sich selbst machen kann: die beiden Worte »Sühne«
Und »Sünde« haben nicht allzu verschiedene Umrisse, besonders wenn
SIe in Antiqua gedruckt sind. Ich erinnere mich, einmal beim schnellen
Lesen die beiden Worte verwechselt zu haben. Naturgemäß wollte
das Ganze keinen Sinn geben, bis durch ein nochmaliges Nachlesen

') Mitgeteilt von E. Javale, Die Physiologie des Lesens und Schreibens, Leipzig
I9°7, S. 136—141.

2) Erdmann und Dodge, Physiologische Untersuchungen über das Lesen auf
experimenteller Grundlage, Halle 1898.

Zeitschr. f. Ästheük u. a]lg. Kunstwissenschaft. III. 37
 
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