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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 3.1908

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Wütschke, Hans: Friedrich Hebbel und das Tragische
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https://doi.org/10.11588/diglit.3433#0073
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FRIEDRICH HEBBEL UND DAS TRAGISCHE. gg

Leid eine Art Sühne für eine sittliche Verschuldung ist; daneben aber
stehen zahlreiche Fälle, in denen das Leid tragisch wirkt, ohne daß
von einer vorhergehenden sittlichen Verfehlung die Rede sei.

Hebbel neigt auch, was die »Schuld« anbetrifft, der Hegeischen
Ansicht zu. Hebbels Begriff von Schuld und Versöhnung braucht
nicht noch einmal klargelegt zu werden (vgl. oben S. 49 ff.). Wenn
nach Hegel in der Tragödie jedes Handeln eines Menschen zugleich
andere, an sich aber ebenso berechtigte Forderungen des Sittlichen
verletzt, so ist das derselbe Schuldbegriff, wie ihn Hebbel formuliert
hat. Der Untergang ist unvermeidlich eben wegen dieser, freilich vom
Standpunkt des Individuums unbewußten Verletzung anderer sittlicher
Forderungen. Hebbel betont sogar ausdrücklich: »Hegel, Schuld-
begriff, Rechtsphilosophie § 140, ganz der meinige« (T. Ende März
1844). Darauf ist es auch zurückzuführen, wenn er Handeln und
Leiden geradezu identifiziert, indem er sagt, daß alles Handeln sich
dem Schicksal, d. h. dem Weltwillen gegenüber in ein Leiden auflöst,
und gerade dies wird in der Tragödie veranschaulicht. Alles Leiden
aber ist im Individuum ein nach innen gekehrtes Handeln (V. z. M. M.).
Hebbels Ansicht, daß alles Tragische in der »Selbstkorrektur der Welt«
liege, welche durch die Maßlosigkeit und Überhebung des Individuums
herbeigeführt wird, kommt der von Volkelt entwickelten Überhebungs-
theorie außerordentlich nahe.

Bei aller Ähnlichkeit von Hebbels ästhetischen Ansichten mit denen
Hegels ist es aber interessant, zu beobachten, wie der Dichter sich
dennoch von dem einseitig optimistischen Standpunkt, der gerade die
Hegeische Schule auszeichnet, abwendet und dem von Volkelt neuer-
dings wieder geforderten pessimistischen Standpunkt zuneigt. Das
zeigen nicht nur zahlreiche Aussprüche Hebbels, so u. a. der, daß
alle Tragik in der Vernichtung liege und nichts anschaulicher mache
als die Leere des Daseins (Br. an Charl. Rousseau, 27. 7. 41), son-
dern es tritt vor allem in der bei ihm immer wiederkehrenden Dar-
stellung der »Tragik der niederdrückenden Art« (Volkelt) hervor. Das
»Tragische der befreienden Art«, das insofern einen höheren ästhe-
tischen Reiz für uns hat, als es Lustgefühle der Harmonie und Ver-
söhnung auslöst, zeigt er auffallend wenig.

Fassen wir das Gesamtergebnis noch einmal kurz zusammen:
Alle Tragik liegt begründet in der Inkongruenz zwischem dem In-
dividuum und dem Universum, zwischen dem Menschenwillen und
dem Weltwillen. Indem das Individuum über sich hinaus zur Idee
fortschreiten will, verfällt es in Selbstüberhebung und Maßlosigkeit.
 
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