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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 16.1922

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Heft 1
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Stoltenberg, Hans Lorenz: Sinnen- und Übersinnenkunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.3618#0009

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SINNEN- UND ÜBERSINNENKUNST.

Künste Anschaukünste nennen. Im Unterschiede dazu verwenden
dann die eigentlichen Empfindungskünste einen größeren Inhalt der
Ordnungsform zum Ausdruck: sei es auf der Geige wenigstens alle
Tonhöhen, wenn auch bloß eine Klangfarbe, sei es im großen Orchester
auch alle möglichen Klangfarben. Dann gibt es zweitens noch solche
Kunstwerke, die sich dieser Urstückewesentlich mittelbar bedienen,
in denen das Sinnhafte auf etwas anderes, mit ihm nicht mehr wie
seine Sinngefühle wesentlich Verbundenes hindeutet, also über sich
hinausweist. Werke der Übersinnenkunst möchte ich sie deshalb
kurz nennen. Auch sie sind, was die Form der Anschauung betrifft,
entweder Werke der Zeitkunst wie das Gedicht, oder der Raumkunst
wie das Bildnis, oder der Zeitraumkunst wie die Pantomime. Eigent-
liche Werke der Raumzeitkunst kommen dagegen kaum vor. Auch sie
gehören entweder zur bloßen Anschaukunst, wie die Zeichnung eines
Tieres, oder aber zur eigentlichen Empfindungskunst, wie das bunte
Gemälde z. B. von einer Verhandlung.

Was in jedem dieser Sinnen- und Übersinnenkunstwerke an Sinnes-
empfindungen vorhanden ist, möchte ich dabei der Kürze halber seinen
— reichen oder armen — Sinnenleib nennen, was dieser an sich
durch Form- und Sinnengefühl zum Ausdruck bringt, seine Sinnen-
seele, endlich, was, in einigen Werken, noch weiter durch diese
Empfindungen zwar auch an Gefühlen, aber besonders doch daneben
an Vorstellungen und Gedanken — z. B. durch Darstellung von sicht-
baren oder hörbaren Handlungen — vermittelt werden soll — seine
Übersinnenseele. Zwei Seelen stecken also — zum mindesten in
den Werken einiger Künste. Wie die sich zueinander verhalten können
und sollen — das scheint mir die Grundfrage sehr vieler Kunststreite
und Kunstkämpfe zu sein. Daß diese kunsthafte Frage durchaus keine
»künstliche« Frage ist, daß vielmehr diese zwei Seelen schon in den
uns in der Wahrnehmung gegebenen Empfindungsverflochten und
zwar auch im Kampfe miteinander liegen, mögen kurz zwei Beispiele
zeigen. Einmal die herbstliche Landschaft! Wie muß das Wissen
um die sterbenden Blätter, die Übersinnenseele, einen eigentlich traurig
stimmen und wie oft hat diese Trauer denn auch in Gedichten ihren
Ausdruck gefunden — aber wie froh erregt ist doch im Gegensatze
dazu die reine Sinnenseele dieser Landschaft, in der es überquillt von
Gelb und Gold und Rot! Dann — aus dem Gebiet der Hörkunst —
etwa das Wort Aufruhr! Wie wenig paßt das, rein stärklauflich
(rhythmisch) genommen, zu seinem Inhalt, der vielmehr eine ansteigende
Form, wie »hinan«:, >ins Licht«, »auf den Thron« verlangt und nicht
eine so matt abfallende, für die eher ein Inhalt wie hinsank oder Müd-
heit am Platze wäre.
 
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