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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 16.1922

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Stern, Lucie: Wilhelm Meisters Lehrjahre und Jean Pauls Titan
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https://doi.org/10.11588/diglit.3618#0072

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66 LUCIE STERN.

uns ... an seine Brust, während jene sich stolz in ihren Purpur
hüllen ').« Auch in dieser Hinsicht, der engen Beziehung des Lesers
zur Dichtung, steht der Titan dem Werther näher als dem Meister.
Für den Werther hat Erich Schmidt nachgewiesen, daß ein befreundetes
Verhältnis zwischen dem Leser und den Personen der Dichtung be-
steht, das schon allein durch die Briefform bedingt ist: »Leute, deren
Briefe wir lesen, treten uns menschlich nahe und reden gewisser-
maßen zu uns selbst. Wenn wir Werthers Leiden lesen, so werden
wir uns ganz unwillkürlich als die eigentlichen Empfänger dieser Briefe
ansehen und mit der bangen Angst eines Freundes dem Wachsen der
Leidenschaft zusehen2).« Diese Intimität des Dichters mit dem Leser
ist am stärksten in den früheren Werken, sie läßt nach, als Jean Paul
sie als spielerisches Beiwerk empfindet, das dem würdigen Rhythmus
des hohen Romans nicht gemäß ist. Im Entwurf zum Titan finden
sich häufig längere Anrufungen des Lesers, die im Werk dann fort-
gelassen sind. Zum Beispiel heißt es im Manuskript3): »Indem ich
und der Graf hinter dem Hand in Hand gehenden Paare nachfolge,
so plagt es mich, daß es Wesen geben könne, von denen ich mich
für ihr Geld muß lesen lassen, welche sich nicht darein finden können,
daß meine teuere Liane — darauf schwör' ich und sterb' ich —, diese
lebendige Flamme reiner, religiöser, schwesterlicher Liebe, es uneigen-
nützig und wahr mit Rabetten meine . ..« Dieser Stelle entspricht im
heutigen Text: »Hier einsam neben dem Bruder sagte Liane der
Schwester das Wort der Freundschaft lauter. . . O sehet in die Flamme
der reinen, religiösen, schwesterlichen Liebe mit keinem gelben Auge
des Argwohns! *)«

Eine wesentlichere Rolle noch als der Leser spielt der Autor in
Jean Pauls Romanen. Hier fließen zwei Momente zusammen: einmal
ein mehr äußerliches: der Dichter — auch hier nicht: der abstrakte
Dichter, wie Goethe es meint, wenn er im Meister mitspricht — sondern
der individuelle Dichter Jean Paul — gefällt sich darin, sich selbst
darzustellen, eine Rolle zu übernehmen. Hier liegt eine rein spiele-
rische Freude zugrunde, der Jean Paul vor allem im Hesperus Ge-
nüge getan hat. Der Dichter wird vollkommen zur Gestalt der Dich-
tung gemacht, indem es sich plötzlich erweist, daß Jean Paul einer
der fünf Söhne des Fürsten und also mit den Personnagen der Dich-
tung aufs engste verwandt ist und in ihren Kreis hineingezogen wird
— ein Spiel, das Brentano im Godwi aufgenommen hat. Einen ähn-

') Grüne Heinrich, 1. Fassung 357 f.
■) Richardson, Rousseau und Goethe 134.
s) Textheft.
<) H. 254.
 
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