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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 16.1922

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Wulff, Oskar: Das Problem der Form in neuer Beleuchtung
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https://doi.org/10.11588/diglit.3618#0092

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86 BEMERKUNGEN.

liehen Orientierung auskommen, so widerspricht dem wohl nicht nur die Aussage
unseres Bewußtseins, sondern auch der, in diesem Zusammenhange nicht berück-
sichtigte Tatbestand der Kinderkunst. Er läßt erkennen, daß sich ein gewisses
Durchschnittsmaß beider Arten anschaulicher Auffassung des Gegenständlichen ziem-
lich gleichmäßig auf die Gesamtheit verteilt und die plastische Anschauungsweise
sogar in kräftigerer Entfaltung. Auch ist die Unterscheidung der zwiefachen Wurzel
künstlerischer Begabung nicht völlig neu. Schon Schmarsow hat in seiner ersten
Auseinandersetzung mit Hildebrand das abtastende, also fortschreitende Sehen des
Bildhauers von dem ruhigen gleichsam zeitlosen Schauen der Flächendarstellung
unterschieden. Mir aber gereicht die Lehre Bosselts zu besonderer Genugtuung,
habe ich doch nicht nur seit bald zehn Jahren in meinen Vorlesungen so gelehrt,
sondern schon auf dem Berliner Kongreß für Ästhetik und allgemeine Kunstwissen-
schaft im Jahre 1913 die beiden Grundbegriffe der zweidimensionalen Sehform
(entsprechend dem Hildebrandschen Fernbilde der Ansicht und dergleichen) und
der dreidimensionalen Sehvorstellung (beziehungsweise des »Sehbegriffs«) aufgestellt
und sie in meinen Grundlinien zur Prinzipienlehre der Kunstwissenschaft neuerdings
näher erläutert. Für den zweiten Begriff bietet mir jetzt das Zeugnis Bosselts als
schaffenden Künstlers die willkommene Bestätigung. Hildebrands Begriffsbestim-
mung, nach der die Formvorstellung sich aus einer Summe von Einzelansichten und
Bewegungsvorstellungen zusammensetzt, erfährt durch ihn eine unzweifelhafte Be-
richtigung. Wenn er aber meint, die unter Ausschluß von Licht, Schatten und Farbe
erfaßte Form sei überhaupt nicht mehr ein Gesehenes, — so geht er entschieden
zu weit und hätte richtiger sagen sollen »kein blo ß Gesehenes«. Vom psycho-
logischen Gesichtspunkt ist die Seh- (beziehungsweise Form-)vorstellung vielmehr
als ein verwickelter Vorgang aufzufassen, bestehend aus einer zusammenhängenden
Folge mit Bewegungs- und Tastvorstellungen verknüpfter Gesichtssinneseindrücke,
wie ich sie bereits am anderen Orte umschrieben habe. Bosselt hat zwar durchaus
darin Recht, daß Formvorstellungen sogar von Blinden gebildet werden, aber die
Modellierversuche, die Bürde und Matz mit blinden Kindern angestellt haben, zeigen
gerade, daß sie bei diesen mehr oder weniger undeutlich und allgemein bleiben, —
weil es eben keine anschaulichen Vorstellungen sind wie diejenigen des Künstlers.
Daß die Sehvorstellung zusammengesetzter Natur ist, widerspricht auch keineswegs
der oben aufgestellten Behauptung ihrer kräftigeren allgemeinen Entfaltung. Vermag
doch die künstlerische Einbildungskraft wie die dichterische ganze Vorstellungs-
zusammenhänge leichter ins klare Bewußtsein zu erheben als Einzeleindrücke, sei
es der Gestalt, der Farbe und anderes mehr. Auf Grund dieses gesamten Sach-
verhalts wird nun die Geltung des Hildebrandschen Gesetzes der Reliefgestaltung
erheblich eingeschränkt, wie seinerzeit schon durch Schmarsow, — und zwar für
die kunstgeschichtliche Entwicklung auf einen immerhin noch sehr beträchtlichen
Teil der griechischen Marmorplastik. Treffend unterscheidet der Verfasser inner-
halb der letzteren zwei Entwicklungsreihen. Die eine führt von der Zeichnung über
das Flachrelief zum Hochrelief und zu den Rundfiguren der Giebelfelder. Sie be-
wahrt denn auch, wie ich öfters hervorgehoben habe, von der Nike des Archermos
bis zum Myronischen Diskobol alle Mängel der jeweiligen Zeichnung, wie die zu-
sammengesetzte Projektion der menschlichen Gestalt, die falsche Verkürzung und
anderes mehr. Daneben aber entfaltet sich die Reihe der eigentlichen freiplastischen
Stammtypen der nackten männlichen und der bekleideten weiblichen sowie der
Sitzfigur beiderlei Geschlechts. Ursprüngliche Rundplastik erblickt Bosselt mit Recht
auch in den Stammtypen der ägyptischen Kunst, die wie die griechischen gleichsam
aus der Puppe hervorgegangen sind, wenngleich eine gewisse Rückwirkung der
 
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