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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 16.1922

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Heft 2
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Koehler-Deditius, Annemarie: Mignon
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https://doi.org/10.11588/diglit.3618#0162

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156 ANNEMARIE KOEHLER-DEDITIUS.

Lag zwischen der ersten und zweiten Strophe die gedankliche
Wendung zur Außenwelt, so liegt dem symmetrischen Bau des Ge-
dichts entsprechend zwischen der zweiten und dritten Strophe wieder
eine Wendung nach innen. Aber diese Wendung nach innen wird
gleichsam verzögert, und der Blick in die Wirrnisse des eigenen Herzens
furchtsam unterlassen, und es ist nur das Menschliche im allgemeinen,
dem sich die Gedanken von ihrer Suche in der als beseelt empfundenen
Natur wieder zuwenden. Wundervoll ist in den beiden ersten Zeilen
der dritten Strophe das Eigenartige in Mignons widerspruchsvollem
Empfinden ausgedrückt: die Ruhe im Arm des Freundes, die sie er-
sehnt, ist die hinströmende Klage, die Entfesselung der bedrückten
Seele, Bewegung nach gewaltsamer Erstarrung. Aber das Glück wird
ihr nicht zuteil, und wie dem rückhaltlosen Wunsche zu Anfang stellt
sich hier auch der verhüllten Sehnsucht das Schicksal gegenüber. Die
beiden letzten Zeilen sind hier nicht so scharf abgetrennt wie in der
ersten Strophe, schon das Bindewort (allein) weist darauf hin; doch ist
die Angliederung immerhin keine einfache Fortführung und die Zwei-
teilung der Strophe bleibt noch immer deutlich, und ihre Verbindung
liegt in der tieferen Schicht des Gefühlsmäßigen: eine Logik des Herzens
siegt über den Verstand, dieser würde den anderen glücklieben Men-
schen sogleich das eigene Ich entgegensetzen; Mignons Ich ist aber
nicht mehr stark genug zu dieser Selbständigkeit, sie ist ganz einge-
nommen von dem Gedanken an ihre Pflicht. Und das äußere Zeichen
dieser Pflicht, der Schwur tritt ihr auch zuerst über die Lippen. Im
Urmeister lautet die Zeile: Allein mir drückt ein Schwur die Lippen
zu, und an diesem einen konkreten Beispiel kann die vorhin aufge-
stellte Behauptung über das Verhältnis der theatralischen Sendung zu
den Lehrjahren aufgezeigt werden. Die erste logisch bessere Fassung
wirkt blaß, denn hier wird der Schwur fast gleichgültig und neben-
sächlich berührt, jedenfalls fehlt der Zeile die innere Wucht der späteren
Fassung. Uebrigens wird diese Stelle noch in anderem Zusammenhange
erwähnt werden müssen. Auch die beiden letzten Zeilen werden von
einem Gegensatz beherrscht, dem Schwur steht der Gott gegenüber,
dem Zudrücken das Aufschließen. Dieser Gott aber ist keine Hoffnung
und Verheißung, die Berufung auf ihn ist das Eingeständnis der Un-
möglichkeit einer Rettung, ist der Ausdruck dafür, daß Mignon an der
Entsagung zugrunde geht. — Kurz gesagt ist der Gedankenablauf des
Gedichts eine Symmetrie von Gegensätzen, was dem starr erscheinenden
Schema der Zweiteilung jene innere Belebtheit gibt, wie sie dem inneren
Kampfe Mignons entspricht, der sich hinter starrer Zurückhaltung verbirgt.

3. Bei der Betrachtung des Rhythmus finden wir diese formbe-
lebende innere Bewegung wieder. Wenn man das Oedicht ohne aus-
 
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