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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 16.1922

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https://doi.org/10.11588/diglit.3618#0262

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256 BESPRECHUNGEN.

leicht gern vorbehalten möchte: in dem Sinne, daß das Wesentliche, der Geist der
alten Dichtung dem modernen Empfinden nahe gebracht wäre. Denn das Miß-
verstehen der Originale bezieht sich nicht bloß auf mehr oder weniger belanglose
Einzelheiten, sondern auch auf den Kern der Sache. Gerade da, wo der Durch-
schnittsleser, der am Einzelnen und Äußerlichen klebt, vom Dichter aufgeklärt
werden könnte, also wo es sich handelt um das Kunstwerk im ganzen nach Aut-
bau, Absicht und Gesinnung, gerade da versagt Herr Gorsieben wie der unreifste
Schüler oder Pedant. Ihm fehlt nicht nur das germanistische Abc; ihm fehlt auch
das künstlerische und menschliche Auge für Umriß und Gehalt.

Auch »reines, voraussetzungsloses Kunstwerk«, d. h. ohne Vorbereitungen und
Erklärungen zu genießen, ist seine Arbeit keineswegs. Die Eddalieder bedürfen
für den heutigen Leser der Erklärung unbedingt, und die bisherigen Übersetzei,
auch diejenigen, die nicht bloß Gelehrte, sondern auch echte Dichter waren odei
sind, wie Simrock und der alle überragende Genzmer, haben sehr recht getan, An-
merkungen und Einleitungen beizugeben. Fehlen solche, so sind die notwendig6
Folge Mißverständnisse groß und klein. Gorsieben, der die erklärenden Zutaten
verachtet, nimmt die zugehörigen Unklarheiten und Umdeutungen seinen Lesen1
bereits vorweg. Er schmeichelt sich infolgedessen mit der Hoffnung, die Edda von
einer neuen, bisher ganz unbekannten Seite zu zeigen. In der Tat erscheint die
Edda bei ihm als etwas völlig Neues. Aber unbekannt war dieses Neue bisher
nur deshalb, weil es einfach nicht vorhanden war; erst im Geiste Herrn Gorsiebens
— oder soll ich sagen: im Geiste der expressionistischen Literatengruppe? — 1S
es Wirklichkeit — und Tat geworden.

Eine Zeitung hat die »Gorsleben-Edda« »expressionistische Dichtung im guten>
großen Sinn des Wortes« genannt. Das war gewiß als Schmeichelei für den Autor
gedacht. Wirklich zeigt sich eine gewisse Verwandtschaft mit der Art der Hasen-
clever, Becher, Sternheim und Genossen. Sie liegt in der dithyrambischen Nebel'
haftigkeit, die der Bearbeiter manchen Zusammenhängen mitteilt, in den grell«11
und krassen Lichtern, mit denen er das Ganze übersät, und in Spuren der bekannte"
revolutionären Ideen. Ich glaube dem Verfasser nicht unrecht zu tun, wenn icn
annehme, daß er diese Dinge in die Eddalieder hineingesehen hat. In diesen
ist ja wirklich hymnische Erregtheit zu spüren, und sie verherrlichen den Trotz des
sich Auflehnenden mit Inbrunst. Dies, vermute ich, hat den Bearbeiter angezogen-
Statt nun aber dem eigentümlichen Ethos der alten Dichtungen sich rein hinzu-
geben, um es echoartig aus sich heraus wiederzugeben, wie es Bedürfnis und Ab-
gabe des wahren künstlerischen Übersetzers ist, hat Gorsieben, achtlos zutappe<ici>
das Ganze mit seiner Subjektivität überzogen und hat so, wie gesagt, etwas Neues
aus der Edda gemacht — nicht etwas ganz Neues, etwas aus einem Guß, denn
der Stoff ließ sich nimmermehr völlig umschmelzen, sondern ein halbschlächtigeS
Etwas, das nicht Fisch noch Fleisch ist, nicht Edda und nicht expressionistische
Dichtung von 1920; kein Kunstwerk also. Keinen unglücklicheren Griff koimte
Gorsieben tun als den nach dem ihm — trotz Hymnik und trotz Heldenrevolte -"
innerlich fremden altgermanischen Stoff. Dieser Griff war noch unglücklicher als
der Hasenclevers, als er sich erkühnte, die Antigone des Sophokles in die schreien-
den Farben seines Geschmacks zn kleiden.

Zur Veranschaulichung seien einige Beispiele genannt. Häufig sind sinnlose
Wortschälle — diese Pest der jüngsten Dichtung —: »Gold wüßte ich keins au1
der Niederheide, Davon wir das beste nicht hätten, anderes und gleichviel« (del
Sinn des Urtextes ist: ich wüßte keinen goldenen Ring auf der Gnitaheide, zu dem
wir nicht ein gleichwertiges Gegenstück besaßen). Wie Gudrun dem Etzel das
 
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