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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 16.1922

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Meyer, Theodor A.: Das deutsche Drama und seine Form
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https://doi.org/10.11588/diglit.3618#0375

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DAS DEUTSCHE DRAMA UND SEINE FORM. 359

■"echten Drama die Herrschaft streitig zu machen. Die ästhetische
'heorie ist dagegen ganz auf das regelrechte Drama eingestellt; sie
vermag im freien Drama nur eine Sprengung der dem Drama gemäßen
f*orm zu sehen, die nur in besonderen Ausnahmefällen, wie etwa bei
Goethes Faust durch die Natur des Stoffes und die Eigenart der dich-
terischen Idee zu entschuldigen sei. Geblendet durch die Erfordernisse
"er Kulissenbühne hat sie den Sinn und die Berechtigung, wie die
"ervorragende nationale Bedeutung des freien Dramas verkannt.

Das regelrechte Drama, das bei den Kritikern bisher allein Gel-
ang besessen hat, stammt aus Frankreich und ist in Deutschland
aUrch die kritischen Bemühungen von Gottsched und Lessing einge-
•Jnrt worden. Man wird es sonderbar finden, die beiden Antipoden
2usammengespannt und als Mitarbeiter an demselben Ziel genannt zu
sehen. Indes ist an der geschichtlichen Tatsache nicht zu deuteln,
Qaß ihr Wirken die französische Dramenform bei uns heimisch ge-
dacht hat. Man rühmt es als das unsterbliche Verdienst Lessings,
daß er durch seine Großtaten als Kritiker und Dichter das französi-
Sche Drama, das uns Gottsched täppisch genug aufgenötigt habe,
aüßer Kurs gesetzt und die nationale deutsche Bühne gegründet habe
nd gewiß ist es Lessing hoch anzurechnen, daß er den Geist der
'assischen französischen Tragödie, um den es Gottsched vor allem
u tun war, bekämpft, daß er der sklavischen Nachahmung der Fran-
ken ein Ende gemacht und an Stelle ihres deklamatorischen Pathos
lne dem deutschen Geist gemäßere Schlichtheit und Einfachheit gesetzt
. a'! er hat die stark konventionelle Auffassung des Menschentums,
" der sich die höfischen Dichter der französischen Tragödie bewegen,
^"t einer natürlicheren und wärmeren und freieren Anschauung vom
Menschen vertauscht. Auch dafür muß man Lessing Dank wissen,
^aß er die starre Regelmäßigkeit der französischen Bühnenform durch-
gehen und dem Drama die Befreiung von der Regel der Einheit des
1 rts und der Zeit erkämpft hat. Er hat damit nicht bloß für Deutsch-
^nd, sondern für Europa und vor allem für Frankreich selbst das
rarna von einer engen Schranke befreit, die es eingeschnürt und ihm
pn freien Wuchs verkümmert hat. Aber von den Grundlagen der
rarizösischen Form ist er nicht abgewichen. Lessing hat Shakespeare
^v°hl bewundert und ihn in seinem Streit mit den Franzosen als Eides-
"e'fer für die Griechen aufgerufen, aber trotz seiner Bewunderung hat
er ihm auf seine eigene Produktion keinen Einfluß verstattet. Man
P e'ß es bei uns viel zu wenig, daß das dramatische Werk des großen
•"anzosenbekämpfers ganz unter französischem Einfluß gestanden hat.
Während er die großen Tragiker Corneille und Racine in Bann ge-
ari hat, hat er seine Muster bei der Come'die larmoyante gesucht.

Zeitschr. f. Ästhetik u. allR. Kunstwissenschaft. XVI. 24
 
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