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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 16.1922

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Heft 4
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Schmarsow, August; Ehlotzky, Fritz: Die reine Form in der Ornamentik aller Künste, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.3618#0499

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DIE REINE FORM IN DER ORNAMENTIK ALLER KÜNSTE. 4g3

leisen »Treten« der Versfüße durch den vortragenden Dichter oder erfindenden Rhap-
soden immer noch mit im Spiel bleibt.

Schon am geläufigen Schema der alkäischen Strophe, das wir vorangestellt haben,
ist nun aber zu ersehen, daß die erste Silbe nicht notwendig eine Kürze sein muß,
sondern auch eine Länge sein darf. Sie ist nach der Sprache der lateinischen Metriker
»syllaba anceps« d. h. doppelköpfig; sie kann den einen oder den anderen Kopf als
diesmal gültigen hervorkehren, so daß wir uns deutsch solche abwechselnde Beliebig-
keit unmittelbarer verständlich machen könnten, wenn wir statt dessen »doppelzüngig«
sagten, das einen ungewissen Wechsel, einen unberechenbaren Doppelsinn bedeutet,
der aus Naturanlage entspringen mag, ohne deshalb beabsichtigtes Doppelspiel sein zu
müssen. Das »Entweder-Oder«, das So oder So, das die Möglichkeit des anderen
Falles für diesmal ausschaltet, muß zum Ausdruck kommen; aber die Wandelbarkeit,
der Wechsel nach der Wahl bleibt bestehen. Die Quantität der Silbe ist beliebig,
aber nach der Wahl bindend. Dies »Amphibium« oder »anceps« entscheidet dem-
nach nicht über die richtige Bezeichnung des Versmaßes. Die beiden folgenden
Silbenpaare können danach ebensogut für sich aufgefaßt, d. h. als Trochäen an-
gesprochen werden; sie würden alsdann eine »trochäische Dipodie« bilden und nicht
die Annahme einer angehängten Kürze mehr nötig machen, wie vorher das jambische
Paar. Diese Trochäen wären dann die eigentlichen Versfüße oder, wie wir sagen
wollten, die richtigen Beine, auf denen die erste Hälfte der Verszeile einherschreitet;
der einzelne Trochäus wäre das Grundmaß, das wir annehmen dürften, und nicht
der Jambus. Die doppelzüngige Anfangsilbe wäre dagegen nur ein Vorschlag oder
Anlauf, ein Auftakt, wie die Musiker sagen, oder wie der Sänger, der Rhapsode
beim Atmen sofort merken würde, eine Zutat, die dazu dient, den Aufschwung der
Stimme zu vollziehen und damit zugleich den flotten Verlauf der Verszeile zu sichern. —
Da dieselbe Anfangssilbe, als solches Mittel der Intonation, auch bei der zweiten Zeile
wiederkehrt, sieht man, daß diese Eratmung, nach der Pause am Schluß der vorigen
Zeile, nun zum Kennzeichen des Anfangs einer neuen metrischen Einheit geworden
ist, die sonst, nur an sich betrachtet, nichts anderes als die schlichte Wiederholung
der ersten darbietet. Ohne diesen Kopf verliefe die trochäische Hälfte gleichsam
abwärts, sinkenden Atems: nun erhebt sie sich zu stolzer Gangart, erhobenen
Hauptes, mit steigendem Tonfall.

Daß wir nun tatsächlich in der ersten Hälfte beider Zeilen, die wir jetzt ins
Auge fassen, nicht Jamben, sondern Trochäen zu erkennen haben, das ergibt sich
aus dem Charakter der anderen Hälfte, die mit unserer soeben geprüften zusammen-
gejocht wird. Dieser zweite Abschnitt der beiden ersten Verszeilen der alkäischen
Strophe stellt sich unverkennbar als Daktylen-Dipodie dar, d. h. ein Paar von drei-
silbigen Versfüßen, die aus einer Länge und zwei ihr folgenden Kürzen bestehen, in
den Zeichen der Metrik geschrieben: —k^j \^j — WW- Da zeigt sich bei unserer
Auffassung der Dipodie als Paar von Beinen nach Analogie der menschlichen, daß
diese Gehwerkzeuge des Verses sich der Dreiteiligkeit der unserigen noch näher an-
schließen.

Nur wenn wir die vorangehende Vershälfte als trochäisch auffassen, sind beide
Bestandteile der metrischen Einheit gleichen Geschlechts. Der Schritt beider Dipodien
nimmt das Schwergewicht oder die Länge voran und läßt den leichteren Taktteil
folgen, sei dies die einzelne Senkung des Trochäus oder das Paar von Kürzen des
Daktylus. Beide Hälften der Zeile unterscheiden sich dergestalt nur durch das
schnellere Tempo der zweiten, durch die hüpfende Gangart gegenüber dem schlichten
Andante der ersten. Anders ausgedrückt würden wir den stärkeren Kontrast zwischen
der wuchtigen Thesis des Daktylus zu seinem doppelten Nachklapp hervorheben.
 
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