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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 22.1928

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https://doi.org/10.11588/diglit.14168#0115
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102

BESPRECHUNGEN.

1. Die reine Abbildung von Sachen und Begebenheiten; diese ist deshalb natur-
gemäß selten, ganz rein übrigens niemals, weil der einfache Mensch als Gefangener
nicht die erforderliche Reife, Überlegenheit und Objektivität gegenüber den Außen-
dingen, der »anderen Welt« aufzubringen vermag. Im besten Fall wird die Darstel-
lung von einer populär-sentimentalen Note entscheidend bestimmt sein. Viel häufiger
und wahrhafter ist die

2. Art: die Ordnungstendenz als Ornamentik und Dekoration: der Drang zu
schmücken, durch Reihung, Anordnung nach Symmetrie, rhythmischen Wechsel,
zentrale Gruppierung und dergleichen aus spielerischem Bewegungsantrieb Form-
gebilde entstehen zu lassen«. Dieser ganz elementar menschliche Zug bricht gerade
in den beschränktesten Situationen durch und zieht alle erreichbaren Gegenstände
in seinen Gestaltungsbereich, von der traditionellen Form der Spielkarte über die
variationsreichen Tatuierungen bis zu phantastischen Darstellungen auf Zellenwänden;

3. Die am meisten charakteristische Art einer Gefangenenbildnerei kann sich
aber in einer allegorisch-symbolischen Tendenz aussprechen. Etwa ein Haus und
eine ebenso große Hand darüber deutet sich in dem beigeschriebenen Vers:

Er streckt die Hand

Und schrüh nach Brot

Aber das Haus war arm.
Hier finden sich am ersten noch eigene »Gestalten«, die nur den Gefangenen eigen
sind, wenngleich sie fast nie rein herauskommen, sondern »floskelhaft unecht« ver-
brämt sind. Beachtlich ist, daß die ausgezeichnetsten und interessantesten Stücke
fast immer von Schizophrenen oder Manisch-Depressiven stammen und damit in
ein anderes Gebiet weisen, dessen Gestaltungsgesetze, viel komplizierter, aber auch
reiner und direkter, Prinzhorn zuvor in seiner »Bildnerei der Geisteskranken«: unter-
sucht hat. Hier kann man über die seelische Eigenart dieser Menschengruppe be-
stimmte allgemein verbindliche, positive Aussagen machen und ihre Spiegelung in
den Bildwerken aufweisen. Gerade darin ist man aber für die Kriminalpsychologie
in der modernen Forschung mit Recht skeptisch geworden. Es ist nichts damit
getan, »einen gewissen Grad von Intelligenzschwäche, von mangelhafter Auffassungs-
und Denkfähigkeit, Willensschwäche, Halt- und Charakterlosigkeit« des Gefangenen
zu konstatieren, das gibt noch keine eigene psychologische Struktur ab, die sich
von der anderer Menschen abhebt. Es gibt unter den Gefangenen alle Tempera-
mente, Affekte, Wunschphantasien usw. der anderen Menschen, die verschiedene
Reaktion liegt nur in den »präformierten Auswirkungen des Gefangenseins«. Ohne
damit in eine Milieutheorie zu verfallen, weist Prinzhorn dem Gefangenen nur seinen
sozialen oder vielmehr a-sozialen »Ort« an: der Durchschniltsgefangene ist nicht
Verbrecher (mit der sentimental-moralisierenden Note der Verachtung), sondern
»Rechtsbrecher mindestens von Beruf, wenn nicht gar von Anlage. Nicht zu bessern,
nicht zu sozialem Verantwortungsgefühl zu erziehen.« Und deshalb sind ' Freiheits-
drang, Genußbegierde, hemmungslose Impulse, kurzsichtiger Verzicht auf sorgsame
Angleichung des eigenen Tuns an Sitte und Brauch ... die Haupteigenschaften des
Durchschnittsgefangenen. Wie stumpf er ist, ob er mehr oder weniger echte Gemüts-
züge hat, ob er schlau, klug oder dumm ist, ob er trotz allem etwas Gemeinschafts-
sinn besitzt, — das ist sekundär und färbt höchstens seine Entäußerungen ein
wenig.» Von solcher »unbefangen charakterologischen Einstellung« aus sprechen
die Bildwerke viel vertrauter; sie sind der Abdruck der Auseinandersetzung des Ge-
fangenen mit dem Kerkermilieu, mit seinen besonderen Berufserlebnissen, d. h.
Bettel, Kampf mit sozialen Institutionen, Straftaten und mit allgemein menschlichen,
wie Heimat und Liebe, ja, nicht zuletzt ^ein graphischer Brunst- und Notschrei«.
 
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