4
G. F. HARTLAUB
auch ohne all diese Anregung gestaltlos geblieben sein, entscheidend
bleibt, daß jetzt — und nicht früher oder später ■— einschneidende Wand-
lungen und Synthesen in praktischer wie in schlechthin ästhetischer
Hinsicht stattfanden, daß man jetzt erst die verhältnismäßig primitive
und dürftige Kirchenbaukunst, provinzielle Ausbreitung des christlichen
Ostens mit den schon früher im Orient vorgedachten Baugedanken durch-
setzte. Rein praktische Anlässe, wie sie in den Bedürfnissen des ange-
wachsenen Klerus, der Heiligenverehrung und anderen Ansprüchen ge-
geben sein mögen, widersprechen dem nicht; sie sind im Grunde nur
— auf ihrer eigenen Ebene — Ausdruck des gleichen inneren Zeit-
impulses. In jener Änderung und Umgestaltung setzt sich doch mit
einem Selbstbewußtsein, wie es sich auch politisch in den germanischen
Staatenbildungen der Merovinger, Karolinger und schließlich der säch-
sischen und salischen Herrscher kristallisiert, das Kraft- und Körper-
gefühl, die naive Anschauungskraft, das besondere Willens- und Gefühls-
leben eines aus dem Kindheits- in das Jünglingsstadium eintretenden
nordischen Menschenschlages durch und in der Art, wie er die Über-
lieferung neu versteht, bewährt sich schließlich das Völlig-Eigene, nur
hier und nirgends anders Denkbare.
Das Karolinger-Reich, den römischen Imperiumsgedanken in noch
durchaus restaurativer Absicht vorstellend, versteckt in seiner uranfäng-
lichen künstlerischen Produktion das eigentlich Junge, Neue noch stark
in dem mehr Wiederherstellenden. Die scg. karolingische Renaissance
ist eine typisch „postbarocke" Reaktion: ein letztes Wiederherstellen im
rückwärtsschauenden Sinn, dem dann bald ein wirklicher Neubeginn folgt
(wie der Akademismus des 18. und 19. Jahrhunderts nach Barock und
Rokoko). Mit dem 10. Jahrhundert, mit dem Sachsenreich in seinen zu-
nächst mehr autarken Anfängen, hat sich das Neue endgültig verfestigt.
Die Geschichte der mittelalterlichen Kultur, die Geschichte des römischen
Reiches deutscher Nation hat endgültig begonnen. In der bildenden Kunst
finden wir ausgeprägt, daß der nordische, vom Christentum nunmehr bis
zu einem gewissen Grad durchdrungene Volksgeist sein Schicksal selbst
in die Hand nimmt. —
Jedes kunstgeschichtliche Handbuch belehrt über die Errungenschaf-
ten im Grund und Aufriß der basilikalen Kirchenbaukunst, über die
Wandlungen des Innen- und des Außenbaues, die im 8. und 9. Jahrhundert
kraftvoll einsetzen, um sodann nach der Jahrtausendwende einen entfalte-
ten Baustil darzustellen, der mit dem altchristlichen nur noch das durch-
klingende basilikale Schema gemein hat, im übrigen aber sich als ein
Neues ausgibt, für das die Bezeichnung romanisch, wie oft betont worden
ist, besser durch germanisch zu ersetzen wäre. Dies bedeutet nicht, daß
die entscheidenden und frühen Leistungen des romanischen Stils auf
G. F. HARTLAUB
auch ohne all diese Anregung gestaltlos geblieben sein, entscheidend
bleibt, daß jetzt — und nicht früher oder später ■— einschneidende Wand-
lungen und Synthesen in praktischer wie in schlechthin ästhetischer
Hinsicht stattfanden, daß man jetzt erst die verhältnismäßig primitive
und dürftige Kirchenbaukunst, provinzielle Ausbreitung des christlichen
Ostens mit den schon früher im Orient vorgedachten Baugedanken durch-
setzte. Rein praktische Anlässe, wie sie in den Bedürfnissen des ange-
wachsenen Klerus, der Heiligenverehrung und anderen Ansprüchen ge-
geben sein mögen, widersprechen dem nicht; sie sind im Grunde nur
— auf ihrer eigenen Ebene — Ausdruck des gleichen inneren Zeit-
impulses. In jener Änderung und Umgestaltung setzt sich doch mit
einem Selbstbewußtsein, wie es sich auch politisch in den germanischen
Staatenbildungen der Merovinger, Karolinger und schließlich der säch-
sischen und salischen Herrscher kristallisiert, das Kraft- und Körper-
gefühl, die naive Anschauungskraft, das besondere Willens- und Gefühls-
leben eines aus dem Kindheits- in das Jünglingsstadium eintretenden
nordischen Menschenschlages durch und in der Art, wie er die Über-
lieferung neu versteht, bewährt sich schließlich das Völlig-Eigene, nur
hier und nirgends anders Denkbare.
Das Karolinger-Reich, den römischen Imperiumsgedanken in noch
durchaus restaurativer Absicht vorstellend, versteckt in seiner uranfäng-
lichen künstlerischen Produktion das eigentlich Junge, Neue noch stark
in dem mehr Wiederherstellenden. Die scg. karolingische Renaissance
ist eine typisch „postbarocke" Reaktion: ein letztes Wiederherstellen im
rückwärtsschauenden Sinn, dem dann bald ein wirklicher Neubeginn folgt
(wie der Akademismus des 18. und 19. Jahrhunderts nach Barock und
Rokoko). Mit dem 10. Jahrhundert, mit dem Sachsenreich in seinen zu-
nächst mehr autarken Anfängen, hat sich das Neue endgültig verfestigt.
Die Geschichte der mittelalterlichen Kultur, die Geschichte des römischen
Reiches deutscher Nation hat endgültig begonnen. In der bildenden Kunst
finden wir ausgeprägt, daß der nordische, vom Christentum nunmehr bis
zu einem gewissen Grad durchdrungene Volksgeist sein Schicksal selbst
in die Hand nimmt. —
Jedes kunstgeschichtliche Handbuch belehrt über die Errungenschaf-
ten im Grund und Aufriß der basilikalen Kirchenbaukunst, über die
Wandlungen des Innen- und des Außenbaues, die im 8. und 9. Jahrhundert
kraftvoll einsetzen, um sodann nach der Jahrtausendwende einen entfalte-
ten Baustil darzustellen, der mit dem altchristlichen nur noch das durch-
klingende basilikale Schema gemein hat, im übrigen aber sich als ein
Neues ausgibt, für das die Bezeichnung romanisch, wie oft betont worden
ist, besser durch germanisch zu ersetzen wäre. Dies bedeutet nicht, daß
die entscheidenden und frühen Leistungen des romanischen Stils auf