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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 35.1941

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Wocke, Helmut: Rilkes Grabspruch
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https://doi.org/10.11588/diglit.14214#0031
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Rilkes Grabspruch

Von

Helmut Wocke

Der Künstler ist weder in der Zeit noch im Raum beheimatet, sein
Wesen und sein Schaffen wurzeln im Urgrund. Sein Werk ist, fügt sich
ein in die Unendlichkeit des Seins und wirkt fort, ohne an einen irdischen
Namen gebunden zu sein.

Der Stein über dem einsamen Grabe an der Kirche in Raron, einem
kleinen Ort an der Grenze zwischen deutschem und französischem Sprach-
gebiet, zeigt dem Wunsche des Toten gemäß unter dem Familienwappen
nur den Namen (nicht Geburts-, nicht Sterbetag) und dann die Verse:

Rose, oh reiner Widerspruch, Lust,
Niemandes Schlaf zu sein unter soviel
Lidern.

Ein Spruch. Nicht in dem Sinne, daß er letztes Glied einer langen
Gedankenkette wäre. Nicht vom Verstände her sinnend geformt. Ein
Spruch: Leben, unmittelbar erfahrenes und erlittenes, in Dichtung um-
setzend, vom Irdischen aussagend, aber sich ganz ins Offene wendend,
so wie das Grab des Dichters ins Offene der Walliser Landschaft schaut.
Ein Bekenntnis, von der Einmaligkeit Rilkescher Art. Es ist wichtig, die
Verse in der von dem Toten gewählten Ordnung und Abgrenzung in sich
aufzunehmen. Am Anfang: drei Begriffe, ganz knapp, ja hart aneinander-
gefügt. Rasches, jähes Ansteigen. Der Höhepunkt am Schluß der ersten
Zeile. Zugleich Umkehr: die heimliche Gegenströmung gewinnt die Ober-
hand. Das Bild der Fontäne: der drängende Strahl schießt empor, kehrt
jedoch in plötzlicher Wendung in sich zurück zur Erde, der schenkenden.
Die Wasser rinnen nieder, „sanft wie ein Frühlingsregen fällt" (2, 266).
In der Mitte des zweiten Verses ein Einschnitt; wie ein leises Innehalten
nach den Worten: „Niemandes Schlaf zu sein". Dann ein Ausschwingen
in größerem Bogen: „unter soviel / Lidern". Ein Ausgebreitetwerden, ein
Ausgebreitetsein über eine weite Fläche. Ein Ausruhen. Ein „fallendes"
Glück. Der Kreis schließt sich. Hiesiges und Dortiges zusammengefügt zu
einem Ganzen, dem Ganzen. In einer sprachlichen Fassung, die gern

Zeitschr. f. Ästhetik u. allg. Kunstwissenschaft XXXV. 2
 
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