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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 35.1941

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Hartlaub, Gustav Friedrich: Körper, Raum und Ton im frühen Mittelalter
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https://doi.org/10.11588/diglit.14214#0030
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Q. F. HARTLAUB

Kräftebewegung. So wenig wie in der bildenden Kunst war auch in der
Musik diese neue Archaik ein voraussetzungsloser Neubeginn, trotzdem
die vergleichende Musikwissenschaft heute gewisse Züge der Musik
des 9. und 10. Jahrhunderts mit exotisch-primitiver Musikübung zu ver-
gleichen sucht, ganz ähnlich wie etwa die irisch-angelsächsische Orna-
mentik mit ihrer Nachfolge primitiv-völkerkundliche Züge aufleben läßt.
Hier wie dort lag eine Neo-Archaik vor, die das Erbe einer Spät-
entwicklungsstufe vergangener Hochkulturen zu verarbeiten hatte. Wie die
romanische Architektur nicht ohne das basilikale Schema der christlich
spä;antiken Zeit denkbar ist, so bewahrt die „romanische" Musik den can-
tus firmus der Gregorianik wie auch die alten Kirchentonarten, die sich
am Ende des Altertums aus den griechischen Modi entwickelt hatten,
zwar mißverständlich und auf Verwechslungen beruhend, aber doch un-
abtrennbar mit der antiken Überlieferung verbunden.

Wenn wir zum Schluß versuchen, für die besondere Beschaffenheit der
Zeitimpülse sowohl in der bildenden Kunst wie in der Musik dieses
Zeitraumes eine morphologische Formel zu finden, so bietet sich uns
der analog der gesungenen Diaphonie (dem Auseinandersingen im Orga-
num) gebildete Ausdruck des Diamorphismus, den wir oben schon
gelegentlich angewandt haben: ein beginnendes Auseinanderspalten des
Ton- oder Baukörpers der Linie oder Melodie. Im letzten Grunde hängt
solche Tendenz, wie wir noch einmal wiederholen wollen, mit dem gegen
den Leib, gegen die Natur gerichteten dualistischen Bewußtsein des
Christentums und der spätantiken Religiosität überhaupt zusammen, die
schon im späteren Altertum ihre geheimnisvolle Verwandtschaft mit dem
konstruktiven, einen Leerraum gestaltenden Trieb gezeigt hatte und die
jetzt gegenüber dem naiven Materialismus der Nordvölker von neuem sich
auswirkte. Dies Auseinanderspalten gegenüber der altchristlichen grego-
rianischen Einschäftigkeit geschah aber hier wie dort nicht im Sinne
von Auflösung, sondern im Gegenteil zum Bewußtmachen der massiven
spannungbildenden Körperlichkeit. Es setzte überhaupt den wiedererstark-
ten Sinn für das Massiv-Greifbare im Sinne neuen naiven Volkstums
voraus und gab ihm seine besondere nordische Note. Eben darin hielt
sich der diamorphe Impuls auf der Ebene des Archaischen.
 
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