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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 35.1941

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Wocke, Helmut: Rilkes Grabspruch
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https://doi.org/10.11588/diglit.14214#0032
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HELMUT WOCKE

Verkürzungen gibt, um die geistige, die räumliche Gleichzeitigkeit aller
Dinge fühlbar zu machen. Der Stil des späten Rilke, dessen Gedichte in
ihrer „Kondensierung" häufig nur „lyrische Summen nennen, statt die
Posten anzureihen, die zum Ergebnis nötig waren"1).

Die Worte, so geheimnisvoll anmutend, umschließen eine Welt, das
Letzte der Welt, zu dem uns die Pforte verschlossen ist. Ein tausendfaches
Verströmen, Zusammenfließen, Verwobensein, ein Ineinanderklingen und
zugleich ein Ruhen im Sein, das schon war, ehe es wurde, im Vorher, das
Urgrund ist aller Gebilde und Dinge. „Nur dem Aufsingenden säglich. /
Nur dem Göttlichen hörbar" (3, 364). Die Verse sprechen nicht in begriff-
lich scharf abgegrenzten Sätzen zu uns, sie lassen das Schweigen ahnen,
das allwaltende, das in der Kraft der Wirkung sich offenbart. Das aber
zugleich von Spannungen erfüllt ist. Worte brechen hervor, unerwartet.
Die Ordnung auflösend für einen Augenblick und sie wiederherstellend,
nach unverbrüchlichem Gesetz. Die Welt um uns: erhellt, wie blitzartig
erleuchtet von dem Ewigen, das plötzlich einbricht. Rilke stand zuletzt
„hinter" den Dingen. War er nicht auch durch die Landschaft der Toten
gegangen? Hatte er nicht den „vertraulichen" Tod, der Erde „heiligen
Einfall" (3, 301), hineingenommen in sein Dasein? Wie von der „uns ab-
gekehrten Seite des Lebens"2) spricht er zu uns. Und doch klingt auch
Irdisches auf in den Zeilen, die er als Grabspruch für sich bestimmt hat:
in der Unruhe, in dem wie von Ungewißheit durchzitterten Ahnen, in dem
Ruf der Sehnsucht: „Lust, / Niemandes Schlaf zu sein ..." Nichts ist es
selbst — es ist zugleich das Andere, das Entgegengesetzte: „reiner Wider-
spruch".

*

Errichtet keinen Denkstein. Laßt die Rose

nur jedes Jahr zu seinen Gunsten blühn.

Denn Orpheus ists____ (3,317)

Die Rose (die von Rilke so oft besungene) — und Orpheus, der von
den Mänaden zerrissen ward, aber — „Du unendliche Spur!" — noch
jetzt singt in Felsen, Bäumen und Vögeln. Orpheus, der Dichter, im Ewi-
gen wurzelnd, schwindend und — unvergänglich. Auch im Blühen der
Rose offenbart er sich, Sänger und Gott. Die Rose — unendlich sich ans
Außen verströmend und unendlich sich schützend, „gesammelt und ver-
geudet doch zugleich" (2, 256), eine Einheit, aber Einheit im reinen Wider-
spruch und somit wahre Einheit. Die hehrste "der Blumen, das Wunder
unter ihnen, wie aus einer anderen Welt zu uns verpflanzt, die Vollkom-
menheit schon im Hiesigen, die Vollkommenheit ins Irdische hineinragend,

!) Briefe aus Muzot (Ausg. 1937) S. 230.
2) Briefe aus Muzot S. 371.
 
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